Der heilige Schein
des fortschrittlichen Katholizismus zu wählen, denn der wurde in konservativen Kreisen per se des geheimen Kampfes gegen die katholische Kirche verdächtigt. Für viel wirkungsvoller hielt ich es, wenn meine Kritik direkt aus dem mehr oder weniger eigenen Lager käme und klar aufzeigte, dass sich kreuz.net zu Unrecht auf den neuen Papst berief.
Da mir bekannt war, dass fast alle Verantwortlichen von kath.net keinen wissenschaftlich-theologischen Hintergrund hatten und wenig über tiefere kirchenpolitische Zusammenhänge wussten, bot ich ihnen ein Interview zur Piusbruderschaft an und lockte sie mit dem Hinweis, dass sich die von der Kirche damals noch ausgeschlossene Bruderschaft in letzter Zeit durch Kritik an der geplanten Seligsprechung Papst Johannes Pauls II. und den Marienerscheinungen von Medjugorje hervorgetan hatte. Die Verantwortlichen bissen an, und ich nutzte das Interview dann auch, um umfangreiche Kritik am zunehmenden Erstarken eines fanatischen Traditionskatholizismus zu üben. Dass diese Entwicklung durch die Wahl Ratzingers zum Papst einen entscheidenden Aufschwung erhalten hatte, wollte ich damals noch nicht sehen.
Im Zusammenhang dieses Interviews prägte ich auch den Begriff »Vulgärtraditionalismus«, der von da an gebräuchlich wurde. Im extrem konservativen Spektrum müsse man die sehr kleine Gruppe sehr gut gebildeter und differenzierter argumentierender Traditionalisten von der großen Gruppe der sich selbst als >Traditionalisten< bezeichnenden Gläubigen unterscheiden. Letztere seien es, die traditionalistische Institutionen finanzierten sowie das Personal für öffentliche Kundgebungen stellten, folglich entsprechend in Stimmung gehalten werden müssten. Zu diesem Zweck werde von den Meinungsführern des konservativen Katholizismus ein Traditionalismus auf Stammtischniveau gepflegt, den man auch als »Vulgärtraditionalismus« bezeichnen könne. Dazu gehöre es, dass man echte oder vermeintliche Skandale im kirchlichen Umfeld im Stile des Vulgärjournalismus künstlich hochkoche.
Häufig würden bewusst Gerüchte oder Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt und Vorurteile sowie Halbwahrheiten in Kauf genommen. Da Letzteres juristische Folgen haben könne, bleibe man anonym oder wähle Pseudonyme (wodurch zudem die schmale Personaldecke kaschiert werde), und als Medium nutze man meistens das Internet, über das man seine demagogische Berichterstattung einer größeren Öffentlichkeit präsentiere. Das Internet sei dann auch der Ort, an dem sich der Vulgärtraditionalismus in seiner fanatischsten Form zeige.
In meiner Kritik am Vulgärtraditionalismus nannte ich bewusst keine Namen. Die erste öffentliche Reaktion gab es auf der kreuz.net -Website, deren Verantwortliche sich von meinem Vorwurf demagogischer Berichterstattung auch durchaus angesprochen fühlen durften. Die Verteidigung ihrer frommen Kulisse übernahmen nun allerdings nicht die kreuz.net -Betreiber selbst. Statt ihrer meldete sich der bereits im Zusammenhang mit den Herrenabenden erwähnte Pro-NRW-Politiker Christoph Heger. [52] Er warf mir vor, ich hätte durch meine Kritik am kreuz.net -Traditionalismus den »frommen Glaubenssinn« aller guten und wahren Katholiken beleidigt. Also, so darf man diesen Vorwurf wohl verstehen, übelste Nestbeschmutzung betrieben.
Einige Zeit später meldete sich auch die Piusbruderschaft zu Wort, die offensichtlich am Ausdruck »fanatischer Vulgärtraditionalismus« Anstoß nahm. Deren damaliger Distriktsoberer für Deutschland, Pater Nikolaus Pflüger, der für seine Interviews mit der rechtskonservativen Jungen Freiheit bekannt und inzwischen zum ersten Generalassistenten der gesamten Bruderschaft aufgestiegen ist, erwies kreuz.net am 29. Mai 2006 die Ehre eines Exklusivinterviews - obwohl die Seite mit der Piusbruderschaft angeblich in keinster Weise etwas zu tun hat. Darin äußerte er sich überrascht, dass der Angriff auf den »Traditionalismus auf Stammtischniveau«, den er bezeichnenderweise als »Rundumschlag gegen die Piusbruderschaft« interpretierte, ausgerechnet von einem »Bonner Theologen« komme, in den man so große Hoffnung gesetzt habe.
Umständlich verteidigte er die rigide Ablehnung der Religionsfreiheit durch seine Vereinigung, um dann sogleich ein Beispiel für die von mir kritisierte demagogische Berichterstattung abzuliefern. Kreuz.net gab die Vorlage mit der Frage: »Vielleicht verfolgt Berger mit dem Interview andere Ziele als eine Förderung der fachlichen
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