Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)
seinem Ausbruch die Schärfe zu nehmen. Er war schon immer einer, der nicht gern auffällt, dachte Carpenter. Irgend etwas muss tief in ihm bohren, sonst würde er sich nie derart beklagen.
Beide hatten noch keinen Blick auf die Speisenkarte geworfen.
»Es war heute ganz beschissen«, sagte Rhodes nach einer Weile in gelassenerem Ton. »Ein kleines Problem in meiner Abteilung. Einer von diesen eisig stählernen, völlig amoralischen kleinen Buben, der leider ein Genie ist; hat mit neunzehn seinen Doktor gemacht, so ein Typ ist der, und jetzt kommt der und hat etwas Neues gefunden, oder behauptet jedenfalls, er hätte einen Ersatz für das Haemoglobin, entwickelt auf der Basis tödlich giftiger Metallsalze. Sein vorgelegter Plan steckt voll von gewaltigen Unterstellungen und wilden Spekulationen. Doch falls es funktioniert, dann eröffnet sich damit der Weg zur totalen Umgestaltung des menschlichen Körpers, mit dem wir dann mit nahezu jeder Umweltscheiße fertigwerden könnten, die auf uns zukommt.«
»Und wo liegt das Problem? Wird es nicht funktionieren?«
»Das Problem ist, dass es funktionieren könnte. Ich bewerte die Chancen mit neunundneunzig zu eins. Aber Risiko zahlt sich eben manchmal aus, nicht wahr?«
»Und falls das hier so kommt …?«
»Falls es kommt«, sagte Rhodes, »dann werden wir wirklich in eine Welt von Science Fiction-Monstern ohne Menschen gehen. Wenn man das Haemoglobin verändert, bedeutet das, die chemische Zusammensetzung des Blutes von Grund auf umzumodeln, und dann muss das Herz-Lungen-Interface modifiziert werden, und die Lungen müssen sowieso wegen der veränderten Luftzusammensetzung einen anderen Weg gehen, vielleicht müssen wir sie zu arachnidischen Buch-Lungen umbauen, und die Nieren müssen dann ebenfalls umgebaut werden, und das wiederum führt zur Modifizierung der Skelettstruktur, wegen der Kalziumdifferentiale, und dann …« Rhodes holte tief Luft. »Ach, Scheiße, Paul, und wenn wir das alles gemacht haben, dann haben wir eine Kreatur, die möglicherweise recht hübsch an die neuen Bedingungen angepasst ist, aber was für ein Ding ist das dann wirklich? Kann man es noch als menschlich bezeichnen? Es erschreckt mich. Ich hätte gute Lust, diesen Burschen nach Sibirien versetzen zu lassen, damit er dort Gurken züchtet, bevor es ihm gelingt, die fehlenden Teile in sein Puzzle einzubauen und seine gottverfluchte Idee zu verwirklichen.«
Carpenter war verwirrt. Doch diese Verwirrung, das spürte er, kam eigentlich von Nick Rhodes.
»Ich will dich ja nicht mit dem ganzen Zeug nerven«, sagte er. »Aber du hast vor fünf Minuten zu mir gesagt, dein Ziel ist es, für die Menschheit zu arbeiten, während unser Planet sich um uns herum verändert.«
»Ja. Aber ich will, dass wir dabei Menschen bleiben.«
»Selbst wenn die Erde für menschliches Leben nicht mehr geeignet ist?«
Rhodes wandte den Blick ab. »Ich sehe den Widerspruch. Ich kann ihn ja kaum nicht sehen. Das alles beunruhigt mich sehr. Einerseits glaube ich, dass meine Arbeit für das Überleben der Menschheit grundsätzlich notwendig ist, aber andererseits entsetzt es mich, zu welchen Abgründen meine eigene Arbeit führen kann. Es reißt mich also wirklich in zwei verschiedene Richtungen gleichzeitig. Und ich marschiere weiter wie ein braver Soldat, mache meine Forschungsarbeit, erringe den einen und anderen kleinen Sieg – und versuche dabei, mich vor den Großen Fragen zu drücken. Und dann gelingt einem jungen Kerlchen wie diesem Alex Van Vliet der Durchbruch auf die nächste Ebene, jedenfalls sieht es so aus, beziehungsweise, er behauptet, er hätte es geschafft, und zwingt mich damit, mich den Letzten Fragen zu stellen. Ach, Scheiße. Bestellen wir unser Essen, Paul.«
Fast ohne darauf zu achten, drückte Carpenter die Knöpfe auf dem Tischmenü. Einen Hamburger, Fritten, Kohlsalat, angenehme alte Gerichte, höchstwahrscheinlich sämtlich aus synthetischen Zutaten oder aus Kalmaren und Algen recycliert, doch das machte ihm im Moment nichts aus. Er war nicht besonders hungrig.
Er stellte fest, dass Rhodes eine neue Runde Getränke herbeigezaubert hatte. Er schien Alkohol mit gelassener gleichmäßiger Regelhaftigkeit zu sich zu nehmen, saugte ihn sozusagen wie Luft in sich hinein, ohne große Wirkung erkennen zu lassen.
Er war also inzwischen ein Trinker. Schlimm. Aber im Grunde, stellte Carpenter fest, hat sich ja in den vielen Jahren seit der Schulzeit bei Rhodes nichts geändert. Schon damals war
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