Der hellste Stern am Himmel
kaum mehr als ein begehbarer Kleiderschrank. (Anscheinend war es früher einmal die Küche gewesen – ein schmaler Schlauch mit einer Küchenzeile –, bis ein unbekannter Vorbesitzer das zweite Schlafzimmer zur Küche gemacht hatte, groß genug, dass ein Tisch darin Platz hatte. Alles schön und gut, nur dass der verbleibende Raum kaum ein »Zimmer« genannt werden konnte.)
Lydia vermutete (zu Recht), dass viele Bewerber vor ihr die ehemalige Küche abgelehnt hatten. Das Bett war schmal und kurz, es gab keinen Spiegel (natürlich auch keine Frisierkommode), um den sie ihre Lichterkette mit orangefarbenen blütenförmigen Glühbirnen hätte drapieren können, auch keinen Schrank, so dass Lydia ihre Sachen in Kartons unter dem Bett aufbewahrte. Weiterhin vermutete sie – auch hier zu Recht, sie lag selten daneben –, dass Andrej und Jan sich von ihr einen weiblichen Einfluss in der Wohnung versprachen. Da hatten sie sich allerdings geirrt. Zwar war es nicht leicht gewesen, Andrej und seinen Putzplänen zu widerstehen, denn er war ein durchsetzungsstarker Typ, und sie hatte all ihre Entschlossenheit aufbieten müssen. Aber es war wichtig, von Anfang an klarzustellen, wer das Sagen hatte. Sobald sie sicher sein konnte, dass die Männer von ihr
nicht erwarteten, dass sie putzte, würde sie ihren Teil übernehmen.
Vielleicht …
Allerdings, die Miete war erstaunlich günstig, glatte einhundert Euro weniger als in ihrer letzten Unterkunft, und das Haus lag in bequemer Nähe zum Stadtzentrum. Und als sie erfuhr, dass die Jungen aus Gdansk kamen, entdeckte sie ohne deren Zutun, wie nützlich Wörter mit der Endung -sk waren. Gdansk! Es machte ihr solchen Spaß, das Wort zu sagen, dass sie im Internet nach anderen Städtenamen suchte, die auf -sk endeten. Es gab haufenweise! Tomsk und Omsk und Minsk und Murmansk. Sie benutzte die Namen häufig, warum, konnte sie gar nicht sagen, es machte ihr einfach Spaß. Gdansk war ein positives Wort, weil es ein bisschen wie Dank klang, aber alle anderen, besonders Minsk und Irkutsk, klangen wie Schimpfwörter, nur noch zischender und bissiger als die, die sie sonst verwendete. Minsk! Das klang doch, als wäre man echt sauer! Fantastisch. Heftig herausgeschleudert konnte man jemandem richtig Angst einjagen. Irkutsk! Legte man genügend Nachdruck hinein, erweckte man den Eindruck von abgrundtiefer Empörung. Das waren hochwertige Schimpfwörter, die keinen Penny kosteten, und in ihrer gegenwärtigen Lage der Kassenknappheit kamen ihr kleine Gratisvergnügen gerade recht.
Trotzdem, trotz der geschenkten Schimpfwörter vermisste sie Sissy und die große, luftige Wohnung, in der sie zusammen gewohnt hatten. Jetzt konnte sie sich solchen Luxus kaum noch vorstellen, aber damals hatten sie und Sissy eine Putzfrau gehabt. Zwar kam sie nur einmal
in der Woche, aber das reichte völlig aus. Selbst wenn die Küche ganz verdreckt war, so dass man denken konnte, die Mäuse würden im nächsten Moment auf der Arbeitsfläche tanzen, konnte Lydia einfach drüber hinwegsehen, weil sie wusste, dass es in ein, zwei Tagen wieder tipptopp war.
Und Sissy war genauso, ihr war es auch egal. Nie hätte sie Lydia mit einem Putzplan behelligt. Freie Tage waren dazu da, dass man im Schlafanzug blieb, es sich unter einer Decke bequem machte, fernsah und zwölf Schälchen mit Coco-Pops aß; ganz sicher waren sie nicht dazu da, dass man sich die Ärmel aufkrempelte, Gummihandschuhe anzog und dem Schmutz zu Leibe rückte.
Aber die Zeiten, in denen es Putzfrauen, Kleiderschränke und normale Mitbewohner gegeben hatte, waren für Lydia vorbei. Sie stand vor dem Spiegel im Badezimmer und schüttete sich große Mengen einer Flüssigkeit auf den Kopf, die ihre krausen Haare entkrausen sollte. Denn ganz gleich, wie groß ihre Armut war, nie würde sie ihre Haare einfach so lassen. Lieber würde sie hungern, als auf die Tinktur zu verzichten. Sie und ihre wilden Locken führten einen fortwährenden Kampf. Bloß weil sie kein Geld hatte, würde sie nicht einfach klein beigeben, wie eine weniger resolute Frau es vielleicht getan hätte. Lydia ließ sich nicht von ihren Haaren unterkriegen, sie war hier die Bestimmerin!
Sie ging in die Küche, wo sie acht Teelöffel Nescafé in einen Becher mit der Aufschrift »Lydia’s Mug« schaufelte und mit heißem Wasser halb vollgoss, dann füllte sie den Becher mit kaltem Wasser aus dem Hahn auf. Sie trank das Gebräu wie Medizin und würgte widerwillig
den letzten Schluck
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