Der hellste Stern am Himmel
erreichte. In den Klauen nächtlicher Angst erkannte sie, wie verschwenderisch sie all diese Jahre gelebt hatte. Sie hätte sich längst einen Kuchenvorrat anlegen sollen. Aber sie war keine, die Vorräte anlegte. Wenn sie Essbares in ihrer Wohnung hatte, aß sie es. Tatsache. Nichts hielt sich länger als einen Tag.
Plötzlich wanderten ihre Gedanken in eine andere Richtung, und sie fing an, Jason Vorwürfe zu machen. (Als sie zwischen einunddreißig und siebenunddreißig Jahre alt war, hatte sie eine Beziehung mit Jason. In ihrem sechsten gemeinsamen Jahr, gerade als sie beschlossen hatten, ein Kind zu bekommen, entdeckten sie, dass sie sich nicht mehr liebten. Ein Jahr lang taten sie, als ob nichts wäre, in der Hoffnung, die Flamme neu zu entfachen, aber es war zu Ende. Erledigt. Endgültig vorbei.)
Wenn sie und Jason geheiratet und ein Kind bekommen hätten, und wenn Jason jetzt nicht Donanda, eine
portugiesische Schönheit, heiraten würde, dann hätte sie all diese Sorgen nicht.
Aber nein! Er hatte aufgehört, Katie zu lieben, so dass sie sich trennen mussten, und Katie musste sich eine eigene Wohnung kaufen. Zugegeben, sie hatte auch aufgehört, Jason zu lieben, aber auch das war seine Schuld, denn wenn er nicht so unliebenswert geworden wäre, wäre es nicht so weit gekommen.
Ihr Zorn rumorte in ihrem Magen, dann in ihrer Brust, bis sie nach Luft zu ringen begann, und obwohl es schon fünf nach sechs war und viel zu spät, um noch eine Schlaftablette zu nehmen – Verflucht! Sie hatte nicht eine Minute geschlafen! –, musste sie sich aufsetzen und das Licht anmachen und ihre Bücher zur Entbitterung aus dem Regal holen, um zu verhindern, dass sie an ihrer eigenen Galle erstickte.
Keuchend las sie ein paar Zeilen in Mein Glück in meinen Händen , aber es hatte keine Wirkung. Sie schob es beiseite und griff gierig nach Die spirituellen Gesetze des Erfolgs : Alles barer Unsinn! Quatsch! Sie war fast so weit, den Notarzt anzurufen, als sie das nächste Buch aufschlug und eine Zeile ihr ins Auge stach: »Das chinesische Wort für ›Krise‹ bedeutet gleichzeitig ›Chance‹.«
Das hatte die gewünschte Wirkung.
Es fühlte sich an, als hätte sie sich durch einen dunklen Dschungel gekämpft und wäre plötzlich auf dem Gipfel angekommen, wo das Licht hell und die Luft dünn war. Eine Last fiel von ihr ab. Ja, ihr Leben war vorbei! Ja, sie war verdammt! Arbeitslos – womöglich sogar untauglich für den Arbeitsmarkt –, aber ihre Krise könnte ihre Chance sein. Irgendetwas anderes könnte
sie doch mit ihrem Leben machen, oder? Nach Thailand gehen und Tauchen lernen? Oder, viel besser, nach Indien gehen und Erleuchtung erlangen, und wenn sie zurückkam – falls sie je zurückkam, ha –, würde es ihr nichts ausmachen, obdachlos und autolos zu sein und schreckliche Schuhe tragen und sich selbst zum Joggen motivieren zu müssen.
Alles würde sich richten.
SECHZIG TAGE
In der Star Street 66 war bis halb sechs morgens alles ruhig, dann stand Lydia auf. Sie schleppte sich ins Badezimmer, wo sie voller Empörung – man kann es nicht anders nennen – duschte. Sie mochte kein Wasser. Wasser machte ihr Angst. (Dass sie in einem früheren Leben ein Erdmännchen gewesen war, ein Geschöpf der Wüste, jeder Feuchtigkeit abhold, wusste sie nicht, aber es bleiben immer Rückstände für unsere späteren Leben.)
Sie griff hinter sich nach dem Conditioner und stieß dabei Andrejs Duschgel mit dem Ellbogen von der Ablage. Nein! Mit glitschigen Händen versuchte sie es zu halten, aber es entglitt ihr und landete mit einem dreifachen Aufprall auf dem Boden der Duschkabine. Irkutsk! Sie wollte Andrej und Jan nicht aufwecken. Sie waren schon schlimm genug, wenn sie ausgeschlafen waren, diese Jammerlappen; aber wenn sie aus dem Schlaf geschreckt würden, wären sie noch miesepetriger und mürrischer.
Mann, die beiden machten ihr das Leben schwer! In den drei Wochen hatte sie nicht einmal erlebt, dass sie gelacht hätten. Und niemand konnte ihr vorwerfen, dass sie sich nicht bemüht hätte, die beiden mit gutmütigen,
frechen Bemerkungen ein wenig aufzustacheln, wie sie es bei allen Männern tat. Doch statt darauf einzugehen und mitzuhalten, schotteten sie sich ab.
Sie hatte die beiden am Hals, der Mietvertrag war in Jans und Andrejs Namen. Warum sie ihr nicht einfach kündigten, verstand Lydia nicht, denn es war so offensichtlich, dass sie sie hassten.
Vielleicht lag es daran, dass ihr Zimmer lachhaft klein war,
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