Der hellste Stern am Himmel
Zimmer der Polen. Eine Art Wimmern. Sie ging zur Tür.
Waren es sexuelle Aktivitäten? Aber mit wem? Jan war verreist, und Rosie würde um keinen Preis ihr Höschen für Andrej runterlassen, solange sie keinen Ring am Finger hatte. Lydia schwelgte einen Augenblick genüsslich in ihrer Verachtung für Rosie. Sie konnte Rosie und ihre gebügelten Blusen nicht ausstehen – sie war erst einundzwanzig, wieso bügelte sich eine Einundzwanzigjährige ihre Blusen? – und ihren ordentlichen Pferdeschwanz und ihre verlogene Haltung der verletzten Unschuld und ihre sehr un unschuldige Verwendung von Sex als Druckmittel … Vielleicht war Andrej sie endlich leid geworden und vögelte eine andere? Aber das war ebenso unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass er Rosie vögelte. Er hatte so klare Vorstellungen von Richtig und Falsch. – Dann erkannte sie das Geräusch: Weinen! Andrej (oder vielleicht auch Jan, aber aus irgendeinem Grund, obwohl er so stoisch wirkte, vermutete
sie Andrej) weinte! Das war zu komisch, das musste sie sehen.
Sie klopfte an die Tür und öffnete sie, bevor Andrej (oder möglicherweise Jan) sie anherrschen und wegschicken konnte.
Es war tatsächlich Andrej, der – entsetzt, als er sie sah – das Gesicht zur Wand drehte und sich heftig die Augen rieb.
»Ah, hallo, Andrej. Hast du eine Katze im Zimmer?«, fragte sie. »Ich habe komische Geräusche gehört.«
»Keine Katze.« Seine Stimme klang belegt.
»Du hast geweint.«
»Nein.«
»Doch, du hast geweint. Ich habe dich gehört. Was ist passiert? Hat Rosie mit dir Schluss gemacht?«
»Nein.« Obwohl das ein echter Grund zum Weinen gewesen wäre.
»Steh auf. Komm mit mir raus. Ich langweile mich.«
»Nein.«
»Es wird dir guttun, statt hier allein zu heulen wie ein Mädchen. Komm schon, ich habe Wein und Chips besorgt.«
Er würde keine Ruhe finden. Sie würde auf ihn einreden, bis er nachgab. Widerstrebend stellte er die Beine auf den Boden.
»Warum hast du geweint?«, fragte Lydia.
Er dachte nach. Schwer zu beschreiben – die Trostlosigkeit, von der er manchmal erfasst wurde, aber wahrscheinlich spielte Heimweh dabei eine große Rolle. Zugegeben, als er noch in Polen lebte, hatte er ähnliche
Attacken von Verzweiflung erlebt, aber darüber wollte er nicht nachdenken.
Er zuckte die Schultern. »Ich wünschte, ich könnte in meinem Land leben.«
»Das fände ich auch besser.«
Er hob den Kopf. Meinte sie das freundlich?
Nein.
»Das war ein Witz«, sagte sie fast erstaunt. Das ging jetzt schon die ganze Zeit so. »Macht ihr in Polen keine Witze?«
»Natürlich!« In Polen hatten sie alles, und alles viel besser als das, was es in diesem schrecklichen Land gab. »Aber du … so wie du es sagst, ist es nicht lustig.«
»Das gilt für dich genauso, Heulsuse.«
Äußerst würdevoll legte er die vier Pringles in seiner Hand zurück und stand auf. »Ich gehe wieder ins Bett.«
»Bleib, wo du bist. Ich werde dich aufmuntern und dir von meinem Wochenende erzählen.«
Danach weinte er wieder. Er war in tränenreicher Stimmung, und alles war sehr traurig. Was für eine Geschichte. Er musste sie unbedingt Jan erzählen.
Und er sah Lydia mit anderen Augen.
»Deshalb bist du so schrecklich!«
»Eh, ja … wahrscheinlich.« War sie wirklich so schrecklich? »Und was für eine Erklärung hast du?«
VIERUNDFÜNFZIG TAGE
Lydias Vater hatte früher immer gewitzelt, dass Lydia Auto fahren konnte, bevor sie richtig laufen lernte. Nicht dass er oft Witze machte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, Firmen zu gründen, die gleich wieder eingingen, neue politische Philosophien zu entwickeln und Herzinfarkte zu haben.
Armer Dad, dachte sie. Sie konnte nicht sagen, dass sie ihn hasste. Er hatte sich bemüht, er hatte sehr, sehr viel gearbeitet und versucht, alles zusammenzuhalten, nur dass sich nicht alles, was er anrührte, in Gold verwandelte, sondern eher im Gegenteil, und dann war er viel zu früh, mit neunundfünfzig, gestorben und hatte ein schreckliches finanzielles Chaos hinterlassen.
Lydia war fünfzehn, als sie das erste Mal einen Fahrgast beförderte. Sie war weder versichert, noch hatte sie einen Führerschein, aber es war niemand anders da, und bei Peggy Routhy hatten die Wehen eingesetzt, sie musste schnellstens ins Krankenhaus, und vor dem Haus der Duffys stand ein Auto, das jede Minute, die es nicht in Betrieb war, Geld kostete, und Lydias Dad schrie durchs Funkgerät, sie solle sich ans Steuer setzen, so schwer könne es
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