Der hellste Stern am Himmel
aus dieser Abwärtsspirale befreit hatte. Heiraten machte die Menschen verrückt.
Düster überlegte Lydia, welche anderen Möglichkeiten sie hatte. Sie konnte arbeiten – das wäre sogar das Beste, dann könnte sie versuchen, die Einbußen des Wochenendes wieder wettzumachen. Sie stellte sich vor, sie würde die Treppe runtergehen, sich ins Auto setzen, das Taxi-Leuchtschild anschalten und dann zusehen, was passierte – aber jede einzelne Zelle in ihrem Körper sträubte sich dagegen. Sie hatte einfach nicht die Kraft oder was immer man brauchte, um einen Abend mit »Man dankt«, und »Muchas gracias« auszuhalten. Nicht jetzt.
Sie könnte ins Netz gehen und ein paar Dinge recherchieren, aber in dem Fall wäre selbst Arbeit die bessere Option. Von der Vielfalt der unangenehmen Möglichkeiten gelähmt, driftete sie in einen Wachtraum und versuchte zu entscheiden, welchen ihrer Brüder sie am meisten hasste. Da hatte sie großes Glück, eine riesige Auswahl. Murdy war offensichtlich ein Riesenekel, man musste ihn nur ansehen. Er hatte sich von seinen Taxifahrer-Wurzeln gelöst und war jetzt der Chef eines Betriebs für Sanitäranlagen mit inzwischen zwei Ausstellungsräumen in County Meath. Er lebte wie ein reicher Mann in einem Haus mit Säulengang am Stadtrand, zusammen mit seiner blonden, Jeep-fahrenden Frau und zwei drallen unzufriedenen Kindern. Er fuhr einen BMW, ging ins Sonnenstudio, lud Gäste zum Abendbrot ein und manövrierte sich täglich am Rand des Bankrotts entlang. Erst gerade, am Abend zuvor, waren seine Golfschläger konfisziert worden. Pascal Cooper von Cooper Sports (»Alles was Sie beim Sport brauchen«) war vorgefahren, und an dem zwei Stockwerke hohen Eingang zum Haus war es zu einer kurzen, verhaltenen Diskussion gekommen. Lydia hatte ein, zwei knappe Sätze von Pascal mitgehört: »Es war ein Sonderauftrag von Jackson Hole«, und: »Wir regeln das jetzt gleich, oder ich schicke den Sheriff – ah, hallo Lydia! Du siehst aber gut aus. Tolle Haare. Wie kommst du in Dublin zurecht?« »Hallo, Mr. Cooper.« »Pascal! Pascal! Wenn du mich Mister nennst, fühle ich mich so alt. Also, Murdy, die Golfschläger!« Die Schläger wurden aus Murdys BMW in Pascals zehn Jahre alten Civic transferiert, und mit ein paar lauten Fehlzündungen, die Murdy als absichtliches
Zeichen der Unhöflichkeit verstand, fuhr Pascal vom Grundstück.
Ronnie war ganz anders. Er lebte von der Hand in den Mund, war verschlossen und geheimnisvoll und hatte mit mindestens zwei unbekannten Frauen eine Affäre. (»Seine Eier wissen nicht, was sein Schwanz treibt«, hatte Raymond einmal gesagt.) Häufig verschwand er von der Bildfläche, manchmal zwei Tage, manchmal bis zu einer Woche, stellte sein Handy aus und war unerreichbar, und wenn er wieder auftauchte, gab er keine Erklärungen ab. Er hatte schwarzes Haar und einen dichten schwarzen Bart und wirkte ein bisschen satanisch. Auch seine Persönlichkeit war ein bisschen satanisch, fand Lydia. Sehr willensstark. Außerordentlich willensstark. Er wurde nie wütend, er hielt an seinen Meinungen über einen Zeitraum von zehn Jahren fest, ohne einmal die Stimme zu heben, und doch war Lydia sich sicher, dass eine unmenschlich heftige Wut irgendwo unter der Oberfläche schwelte. Poppy hatte früher immer gesagt, Ronnie sei teils unheimlich und teils sexy. Und sie sagte auch – das war, bevor sie den besonnenen Bryan kennenlernte –, dass sie ein zwanghaftes Bedürfnis verspürte herauszufinden, wie es wäre, mit ihm zu schlafen, aber vermutete, dass sie sich danach irgendwie beschmutzt fühlen würde.
Dann gab es noch Raymond, der nach Stuttgart abgehauen war, als er alt genug dazu war. Als sie Kinder waren, war Raymond ihr Lieblingsbruder gewesen, der, mit dem es am lustigsten war. Aber in den letzten anderthalb Jahren hatte sie angefangen, seine Vorliebe für Lustiges zu hassen. Immer wenn sie mit ihm über eine ernste Angelegenheit
sprechen wollte, lenkte er mit einer »lustigen« Anekdote vom Thema ab.
Sie sprang auf. Sie wollte sich betrinken, und wenn sie es allein machen musste, dann eben allein. Allein zu trinken war nicht illegal. Sie ging zum Laden, kaufte ein paar Tüten Knabberzeug und eine Flasche Wein und stellte alles auf die Theke in der Küche.
Als Aperitif würde sie die Pringles mit Sauerrahm- und Schnittlauch-Geschmack essen, und als Hauptgang die Pringles mit Barbecue-Geschmack … Was war das denn?
Seltsame Geräusche. Sie lauschte angestrengt. Aus dem
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