Der Herodes-Killer
seines fünften Opfers verschafft hat.» Flint nickte zu Rosens Worten. «Von diesem Detail weiß niemand außer uns und dem Mörder. Ihr besonderes Wissen und Ihre Behauptung, das Motiv für die Entführung und die Morde zu kennen, bedeuten daher logischerweise, wie ich schon gestern am Telefon sagte, dass Sie den Mörder entweder kennen oder selbst der Mörder sind.»
«Ich kenne den Mörder nicht, und ich bin auch nicht selbst der Mörder.»
«Woher kennen Sie dann sein Motiv?»
«Gestern Abend am Telefon habe ich Ihnen ebenfalls gesagt, dass ich früher einmal der Berater des Papstes in allen Angelegenheiten des Okkulten war.»
«Das haben Sie mir in der Tat gesagt.» Rosen nahm sich vor, diese Behauptung zu überprüfen.
Schweigen, nur unterbrochen vom weit entfernten Muhen von Kühen.
«Wieso verschafft Ihnen Ihre ehemalige Beschäftigung die Kenntnis des Mordmotivs? Wieso vermittelt Ihr Spezialwissen des Okkulten Ihnen einen Einblick, wie der Mörder in Julia Catons Haus gekommen ist?»
Eine zerfledderte Versammlung von Taschenbüchern und gebundenen Büchern neben dem Bett. Die Bibel, New International Version. Malleus Maleficarum – der Hexenhammer. Die Bekenntnisse des Heiligen Augustinus. Juliana von Norwichs Offenbarungen der göttlichen Liebe. Thomas a Kempis. Songs of Innocence and Experience von William Blake.
Rosen fuhr sich mit der Hand an die Kehle.
«Ihr Einblick, Father Flint, was für einen Einblick haben Sie in das Motiv des Mörders?»
«Es handelt sich vermutlich um einen Nachahmungstäter. Sagt Ihnen der Name Alessio Capaneus etwas?»
«Sollte er mir etwas sagen?»
«Nicht wirklich. Er ist eine ziemlich unbekannte Gestalt, derer sich nur wenige erinnern. Ich fürchte, dass er die Ursache für diese Entführungen und Morde ist.»
«Wer ist Alessio Capaneus?»
«War. Er ist tot.»
«Wer war also Alessio Capaneus?»
«Er hat um 1265 herum gelebt; sein Geburtsjahr ist ungewiss, aber er ist mit Sicherheit 1291 gestorben. An diesem Tod besteht kein Zweifel.»
Rosen hatte plötzlich das Gefühl, dass er den Priester schon einmal gesehen hatte, dass er sein Gesicht kannte, aber er konnte es nicht zuordnen.
«Wer war er?»
«Er war ein Nekromant, jemand, der die Toten heraufbeschwört, um die Geheimnisse von Himmel und Hölle zu erfahren. Er hat in Florenz gelebt.»
«Im dreizehnten Jahrhundert?»
Da heute offiziell sein freier Tag war, konnte Rosen dem Priester nicht die Verschwendung der Arbeitszeit eines Polizisten vorwerfen, aber seine Enttäuschung zeigte sich unwillkürlich im Herabsinken seiner Schultern.
«David, Sie schauen mich an, als sollte man mich besser in die Psychiatrie einweisen, statt mich in ein Kloster zu stecken.»
«Nein, ich … ich bin mir nur sicher, dass ich Sie schon einmal gesehen habe.»
War er einer dieser schwadronierenden Männer, die immer im Aufenthaltsraum herumgetigert waren, als Sarah in der Klinik gewesen war? Falls ja , dachte Rosen , muss ich zu diesem Priester freundlich und geduldig sein und darf mir meine Enttäuschung nicht anmerken lassen.
«Tut mir leid, Father, ich habe Sie unterbrochen.»
«Es ist nur sehr wenig über ihn bekannt. Er hat sechs florentinische Frauen entführt und ermordet und ihnen die Ungeborenen aus dem Mutterleib geschnitten.»
«Deswegen hatten Sie also gesagt, er werde nach Julia Caton noch eine einzige weitere Frau ermorden?»
«Genau. Es gibt ein verräterisches Detail: Die wagemutige Entführung des fünften Opfers aus seinem eigenen Haus, indem er ins Nachbarhaus einbricht. Nach meiner Überzeugung verhöhnte Capaneus damit die florentinischen Autoritäten und gab dem Entsetzen neue Nahrung. Aber ansonsten ist sehr wenig bekannt. Es ist, als hätte die Menschheit vor langer Zeit beschlossen, die Erinnerung an Capaneus vom Angesicht der Erde zu tilgen. Hier ein Fragment, dort eine Erwähnung in einer Fußnote. Einige Gelehrte – soweit sie überhaupt von ihm gehört haben – streiten seine Existenz sogar gänzlich ab und behaupten, es handele sich nur um einen Mythos des Mittelalters, wie so viele andere dazu gedacht, die Frauen gefügig zu machen und zu unterdrücken.»
«Falls es überhaupt Informationen über ihn gibt, sind die mit Sicherheit im Internet zu finden», bemerkte Rosen.
«Wir haben hier kein Internet. Und auch kein Fernsehen. Radio empfangen wir allerdings. So habe ich von den Morden in der Hauptstadt erfahren.»
«Wir könnten im Internet nach ihm suchen, bevor ich aufbreche.»
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