Der Herodes-Killer
Mann, ein wahrer Gentleman –, dass sie Kinder aus Londoner Kinderheimen in Pflege nehmen würden. Ich habe mitgezählt. Zwölf langjährige Pflegekinder …»
Rosen beschloss, sich die Unterlagen des Jugendamtes vorzunehmen. Zwölf langjährige Pflegekinder, und doch hatte Isobel Swift anderthalb Jahre lang unentdeckt tot in ihrem Bett gelegen. Er konzentrierte sich wieder auf die alte Dame.
«… und bei Gott, sie waren so gut zu diesen Kindern, so gut, dass das Amt ihnen auch noch kurzfristige Notfälle schickte, so viele, dass ich unmöglich den Überblick behalten konnte. Zu allen Tages- und Nachtzeiten hielten Taxis vor dem Haus, aus denen Sozialarbeiter kleine, lebende Bündel zu Isobels Tür trugen. Wissen Sie, wenn eine alleinerziehende Mutter krank wurde und ins Krankenhaus musste, oder wenn ein Vater oder eine Mutter verhaftet wurde, waren es immer die Kinder, die litten.»
Mrs. Nicholas nahm ein paar Atemzüge aus ihrem Inhalator. Rosen vermutete, dass sie ihre Tage und ihre Wochen überwiegend schweigend verbrachte, sodass das Reden für sie fast so etwas wie eine anstrengende Leibesübung war.
«Aber ihr Unglück wurde durch Isobel gemildert.» Die alte Dame verstummte so lange, dass eine Frage trotz der strengen Auflagen der pensionierten Lehrerin gerechtfertigt schien.
«All diese Pflegekinder, Mrs. Nicholas, und doch hat sie nie jemand besucht? Warum hat sie so lange unentdeckt dagelegen?», fragte Rosen, als spreche er einen Gedanken laut aus.
«Es war 1973 oder 1974. Damals hat sich alles geändert. Gwen wurde kurz vor Weihnachten auf dem Heimweg von der Schule im Dunkeln ermordet. Es war eine ganz furchtbare, schreckliche Zeit. Dezember, es war 1973, ja, 73. Harold hat die Sache nicht verkraftet. Er ist schließlich, Sie wissen schon, in der Klinik gelandet.» Sie tippte auf ihre linke Schläfe. «Und Isobel, sie hat sich von einem Tag auf den anderen vollkommen verändert. Das große Licht in ihrem Inneren erlosch. Sie hatte damals drei Pflegekinder im Haus, ein langfristiges und zwei in Kurzzeitpflege. Als ich das letzte Mal drüben war, im Januar 1974, es war kurz nach Neujahr, standen die drei Pflegekinder in der Küche, und sie schrie sie an: ‹Warum hat es nicht euch getroffen? Warum seid ihr noch am Leben? Warum seid ihr nicht unter der Erde?› Die Kinder weinten hysterisch. Ich versuchte, Isobel zu beruhigen, aber da kehrte sie sich gegen mich, schlug mich ins Gesicht und nannte mich eine aufdringliche … nun, ich möchte das nicht wiederholen. Es waren reizende Kinder. Sie gingen hier ein und aus, brachten mir eine Nachricht von Isobel oder fragten, ob sie bei mir etwas erledigen und sich ein kleines Taschengeld verdienen könnten. Ich habe sogar denen geholfen, die, Sie wissen schon, ein bisschen langsam waren, denen habe ich mit dem Lesen geholfen.»
Mrs. Nicholas beugte sich vor und blickte starr ins Leere, als fasse sie die Vergangenheit scharf ins Auge. Dann wandte sie sich wieder Bellwood zu. «Ich möchte nicht schlecht über die Toten sprechen», sagte sie.
«Die Wahrheit, wie unangenehm sie auch sein mag, ist die Wahrheit und muss ausgesprochen werden.»
«Sie hat die Kinder zum Jugendamt zurückgeschickt. Sie hat mit keinem Nachbarn mehr gesprochen. Sie möchten wissen, was mit den anderen Pflegekindern geschehen ist, den Kindern, die schon erwachsen waren und mit einem Strauß Blumen bei ihr vorbeischauten? Denen machte sie die Tür nicht mehr auf. Ein Mädchen, Susie Armitage, sie war damals achtzehn oder so, kam mit den Blumen über die Straße zu mir und bat mich, sie in Wasser zu stellen und Isobel zu übergeben. Susie ist auf meiner Schwelle zusammengebrochen. Ich habe sie hereingeholt, und sie hat mir den Brief gezeigt, den Isobel ihr geschickt hatte. Arme Susie.»
Mrs. Nicholas zog ein gefaltetes, weißes Blatt aus der Tasche ihrer Strickjacke und reichte es Bellwood.
«Was ist das, Mrs. Nicholas?»
«Susie hat mich beim Weggehen gebeten, das wegzuwerfen. Aber das habe ich irgendwie nicht über mich gebracht. Es ist der Brief, den Isobel Susie geschickt hat.»
Bellwood nahm das Blatt und faltete es auf.
Ich wünsche keine Besuche, Telefonate, Briefe oder sonstige Kommunikation in irgendeiner Form oder Gestalt. Ich will nichts mehr von Ihnen wissen.
Mrs. I. Swift
«Kann ich das behalten?»
Mrs. Nicholas nickte. «Deswegen ist nie jemand bei ihr vorbeigekommen, nicht einmal Susie, die ihr Lieblingspflegekind war. Die Polizei hat Gwens Mörder nie
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