Der Herodes-Killer
baten um sechs. Als der Drucker die Bilder ausspie, nahm Rosen sich das erste, betrachtete seinen Sohn und reichte das Foto Sarah.
«Ist das ein Lächeln in seinem Gesicht?», fragte Sarah.
«Sie empfinden Freude, hören den Klang von Mums Stimme, vertraute Musik …»
Und Schmerz? Rosen schob den Gedanken beiseite, aber er drängte sich sofort wieder auf.
Die Assistentin schaute auf ihre Uhr und sagte: «Sie müssen sich wieder an Ihren Hausarzt wenden, um einen Termin in Mr. Gilling-Smiths Sprechstunde zu bekommen.»
Die Assistentin warf noch einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr, während Sarah sich den Rest des Gels vom Bauch wischte, sich aufsetzte und ihr Top zurechtzog. Sie bedankten sich bei der Assistentin, und diese lächelte, wünschte ihnen viel Glück und hielt ihnen die Tür auf.
«Ich rufe in der Praxis an und vereinbare einen Termin», sagte Sarah. «Möchtest du mitkommen?»
«Ich würde gerne mitkommen, Sarah.»
«Aber du kannst nicht?»
«Ich kann nicht, tut mir leid.»
«Hast du etwas Nettes vor?», fragte sie.
«Ich fahre zur Charing Cross Station.»
«Und was machst du da?»
«Ich treffe mich mit einem Mordverdächtigen.»
Auf dem Weg zum Lift kamen sie an einer Wanduhr vorbei. Er war für das Treffen im Bahnhof keineswegs maßlos verspätet, und er wünschte, er könnte aufhören, sich zerrissen zu fühlen, gezwungen, zwei Aufgaben gleichzeitig gerecht werden zu müssen.
«Ich bring dich zum Auto …»
«Ist es der Herodes-Killer?», fragte sie.
«Es ist der Priester, dieser stets hilfsbereite Priester, Father Sebastian Flint.»
«Ist er ein Mörder?»
Sie kamen vor den Aufzügen an. Gleich darauf trat eine sehr junge und hochschwangere Frau mit ihrer Mutter zu ihnen. David und Sarah Rosen wechselten einen Blick.
«Er könnte es sein, es sieht so aus, als könnte er es durchaus sein.»
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34
Als Rosen Father Sebastian Flint in der Halle der Charing Cross Station erblickte, trank dieser Mineralwasser aus einer Plastikflasche und beobachtete das Paarungsritual zweier Tauben.
Gleichzeitig entdeckte Rosen in einiger Entfernung Carol Bellwood, die die Abfahrts- und Ankunftstafel studierte. Sie drehte den Kopf und blickte dabei zu Rosen, sah aber durch ihn hindurch.
Es war Stoßzeit, und die Halle wirkte wie eine belagerte Stadt, die gleich dem Feind in die Hände fallen würde, so zielstrebig schienen die Pendler zu flüchten.
«Father?»
Rosen war verblüfft von der Stille, die der Priester ausstrahlte, dieselbe Stille, die ihm am Vormittag in der British Library aufgefallen war. Hatte er nicht ein Hörproblem? Nach Kenia? Nachdem der Mob ihn gelyncht hatte?
«Father Sebastian?» Diesmal ein wenig lauter.
«Hallo, David. Schön, dass Sie kommen konnten.» Der Priester blickte nicht zum Chief Inspector auf.
In einem einzigen Augenblick schienen Dutzende Ausgaben des Evening Standard in den Händen von Pendlern an Rosen vorbeizuflattern. Die Schlagzeile verkündete die Entdeckung von Julia Catons Leiche.
Flint blickte zu Rosen auf und sagte: «Arme Julia. Es ist eine Tragödie.»
«Um wie viel Uhr fährt Ihr Zug?»
«Sie können etwa zehn Minuten lang über mich verfügen.»
«Was machen Sie in London, Father Sebastian?»
«Die Verbindung zwischen dem Herodes-Killer und Alessio Capaneus hat mich mitten in der Nacht geweckt. Um ehrlich zu sein, bin ich mehr als ein wenig enttäuscht von mir, dass es mir nicht schon am Tag aufgefallen ist, aber zu meiner Verteidigung muss ich gestehen, dass das St Mark’s nicht gerade eine Brutstätte intellektueller Aktivität ist, und so bin ich inzwischen nur noch ein Schatten meines früheren Ichs. Aber Sie wollen ja nichts von mir hören, oder? Sie wollen etwas über Alessio Capaneus erfahren. Er ist nicht im Internet, aber ich habe ihn heute in einigen sehr interessanten Büchern gefunden.»
Rosen sah auf einer Digitaluhr, wie die Zeit langsam, aber stetig verstrich.
«Alessio Capaneus? Was haben Sie entdeckt?», fragte Rosen.
«Erzurum, das ist eine recht schöne Stadt, haben Sie je von ihr gehört? Nein. Warum sollten Sie auch. Die Stadt ist Jahrhunderte alt, sie liegt am Fuße des Palandöken-Gebirges im ostanatolischen Gebiet der heutigen Türkei. Dort hatte Capaneus seine Satanserscheinungen, und dorthin ist er gereist, nachdem er aus Florenz verbannt worden war. Dort hat er sein Buch geschrieben.»
«Alessio Capaneus hat ein Buch geschrieben? Sie meinten doch, das Buch sei möglicherweise nur ein
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