Der Herr Der Drachen: Roman
Angst vor ihm. Doch gleichzeitig viel zu schnell bereit, die alten Wege erneut zu beschreiten und seine Freiheit für ihn wieder aufzugeben. Komm, verbinde dich mit mir, ich werde es dir zeigen. Marathin streckte ihm ihren Kopf entgegen. Als er ihren Blick erwiderte, erstarrte Tallis und vergaß beinahe zu atmen. Ihr Kopf war halb so groß wie sein gesamter Körper, und ihre grünen Augen schienen ihn zu durchdringen. Dieses mit Gold gesprenkelte Grün füllte sein ganzes Blickfeld aus. Etwas öffnete sich ihm; wie
die Erinnerung an etwas lange Vergessenes drängte es sich in sein Bewusstsein, und ohne zu wissen wie, griff er nach ihr.
Die Zeit stand still. Ein Wirbel trug seine Umgebung davon. Er spürte, wie das Bewusstsein des Drachen ihn einschloss und erfüllte. Wie ein kaltes Feuer pochte tief aus seinem Inneren Tallis’ eigene Kraft durch seine Adern. Ein seltsames Lächeln legte sich über seine Züge, als er plötzlich nicht mehr das Grasland um sich herum sah, sondern einen anderen Ort zu einer anderen Zeit. Eine Stadt, umgeben von Dschungel, begann sich vor seinen Augen abzuzeichnen. Ein Drache und ein Mann knieten zu Füßen eines dunkelhaarigen Mannes. Während er zusah, verbanden sich der Drache und der Mann, verschmolzen miteinander und veränderten sich, häuteten sich, bis sie zu etwas anderem wurden: einem Monstrum, einem Mythos.
Der Anfang, hörte er Marathin flüstern. Dann plötzlich stand er auf einer felsigen Klippe. Ein tosender Wind rüttelte an ihm. Über ihm, mitten im Himmel, schwebte ein Schwarm von Drachen. Sie alle waren durch Ströme aus Licht mit seinem Bewusstsein verbunden, sodass er jeden einzelnen spüren konnte. Ein Gedanke reichte, und sie würden dorthin fliegen, wo er sie haben wollte. Der Schwarm, zischte Marathin. Ein neuer Schwarm. Wenn du die Worte findest.
Dann verstand er plötzlich. Während eines einzigen Lidschlags strömte das Wissen in seine Gedanken; wie ein Atemzug erfüllte es ihn. Ohne zu zögern, reichte er tief hinab in den Kern seines Bewusstseins. Einem unbewussten Hintergedanken gleich, war in ihm das zufriedene Zischen des Drachen.
Worte stiegen zu seiner Zunge hinauf, scharf wie Messerklingen, heiß wie das Feuer der Erde. Es war die Sprache von Marathins Stamm, die Worte ihres Volkes, und sie erfüllten ihr Blut wie Musik. Tallis legte den Kopf in den Nacken und fühlte das Ausmaß seiner Kraft, die aus ihm herausschoss wie ein Stern, der geboren wird. Seine selbst errichtete Begrenzungsmauer barst. Reine Energie erfüllte sein Inneres, und als er aufblickte, sah er
vor den Wolken den geisterhaften Schatten des Drachen, die Haut in Flammen getaucht.
Er erwachte mitten in der Nacht. Sein Mund war trocken, und er lag auf der Seite. Es war stockfinster. Für einen Augenblick glaubte er sich im Zelt seiner Familie in der Wüste zu befinden, doch dann spürte er die Erde unter seiner Wange, nahm den feuchten Geruch des Sumpflands wahr und wusste wieder, wo er war.
Das Pochen in seinem Schädel ließ ihn stöhnen, als er sich hochstemmte. Zuerst war nichts als das Summen der Insekten in der Nacht zu hören, doch dann bemerkte er hinter sich das tiefe Einund Ausatmen des Drachen. Langsam drehte er sich um und sah Marathin, deren Haut in der Dunkelheit schimmerte. Wie eine riesige, in die Ecke gedrängte Katze hockte sie im Gras, den gesenkten Kopf ihm zugewandt.
Langsam setzte er sich auf. Er fühlte sich verändert, erleichtert, aber auch stärker.
Arak-ferish , flüsterte Marathin in seinem Bewusstsein.
»Was hast du getan?«, erklang Attars Stimme hinter ihm, und er fuhr herum, als der Reiter näher kam. Hoch über ihnen riss der Wind ein Loch in die Wolkendecke und erhellte unvermittelt Attars Gesicht. »Sie hört nicht mehr auf mich. Sie sagt, dass sie jetzt mit dir gehen muss. Was hast du getan?«, wiederholte er.
Der Drachenreiter war erbost, und Tallis konnte es ihm nicht verübeln. »Es tut mir leid, aber ich muss zu meiner Schwester.«
Attars Brauen verengten sich. »Auf Marathin?«
»Ich brauche sie«, entgegnete Tallis.
»Soso, du brauchst sie, ja?«, fragte Attar grimmig und trat vor. Kurz vor ihm blieb er stehen und starrte ihn an. »Du hast dich verändert, Clansmann.«
Tallis sah zu dem Drachen hinüber. »Ich habe die Worte gefunden. Nun lenke ich sie.«
»Das sehe ich. Und Haraka?«
»Ihn werde ich hierlassen. Du wirst ihn brauchen, um nach
Hause zu kommen. Er fliegt irgendwo dort hinter uns.« Tallis deutete nach
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