Der Herr Der Drachen: Roman
Westen.
»Also gut.« Attar nickte. »Du glaubst immer noch, dass du es ganz allein mit einem Gott aufnehmen kannst. Oder meinst du, du wärst jetzt selbst zu einem Gott geworden?« Er musterte Tallis. »Du bist kaum ein Mann.«
»Ich weiß nicht, was ich bin«, erwiderte Tallis. »Aber wenn ich sterbe, dann wenigstens bei dem Versuch, meine Schwester zu retten. Würdest du dein Leben nicht für die deine geben?«
»Ich habe keine.« Attars Züge blieben hart.
»Du könntest mit mir kommen.«
»Und zusammen mit dir sterben?« Er schüttelte den Kopf. »Behalt du nur deine Ehre, Clansmann.«
Tallis wandte sich um und ging zu Marathin. »Gute Jagd, Feuchtländer«, sagte er, aber Attar antwortete nicht. Als Tallis sich zwischen die Flügel des Drachen emporgezogen hatte, atmete er tief durch und suchte nach den Worten, während er darauf achtete, seine Kontrolle aufrecht zu erhalten. Fliege. Semorphim , sagte er in der uralten Sprache. Marathin duckte sich kurz und warf sich in die Luft. Dann nahm sie Kurs auf die Wildlande auf.
40
E s schien, als sei Alterin endlos lange fort. Zwei Nächte waren vergangen, und keiner der anderen Dorfbewohner hatte seitdem mit Shaan gesprochen. Sie stand am Ufer des Flusses, und ihre Augen brannten vom Schlafmangel, als sie die braunen Fluten absuchte.
In der letzten Nacht war es zu einem Kampf Willen gegen Willen gekommen. Mit aller Kraft hatte sie sich gegen Azoth gewehrt, doch er war stärker als sie, und das Ding, der Stein, erwachte mehr und mehr. Sie fürchtete sich davor, was erst geschehen würde, wenn eine Verbindung zu ihrem Bewusstsein entstünde. Er war wie eine wilde Flut schäumenden Wassers, die sie hinwegspülen würde, sollte sie ihren Halt verlieren.
Nachdem sie sich eine Weile vom Dorf entfernt hatte, entdeckte sie einen kleinen, sonnenbeschienenen Flecken inmitten des dichten Buschwerks am Rande des Flusses und setzte sich in das feuchte Gras. Träge plätscherte der Fluss gegen das Ufer, und kleine Insekten summten leise um ihren Kopf. Sie verscheuchte sie, legte sich auf die Seite, stützte ihren Kopf auf den Arm und zog die Knie bis zur Brust hoch. Ihr Körper brauchte dringend Schlaf. Wenn sie überhaupt eine Chance zur Flucht haben wollte, musste sie sich unbedingt erholen. Immerhin war es ihr gelungen, in einem hohlen Baum außerhalb des Dorfes in einem gestohlenen Sack einen Vorrat von Nahrungsmitteln anzulegen: eine weiche Wurzel mit einem milden, salzigen Geschmack, etwas getrockneten Fisch und eine große, kernige Oonungafrucht. Zwar verursachte sie Magenschmerzen, doch war es besser als nichts. Aber würde es reichen, bis sie dem Dschungel entflohen war? Wer konnte das schon sagen?
Elend rollte Shaan sich zusammen und versank fast sofort in einen ruhelosen Schlaf voller Träume, in denen Balkis sie mied und Azoth sie verfolgte. Als sie schließlich seine Hände an ihren Fersen spürte, stolperte sie, fiel hin und stürzte in einen schwarzen Abgrund, der von den Echos flüsternder Stimmen erfüllt war. Erschrocken schrie sie, bis sie plötzlich von jemandem aufgefangen wurde. Tallis’ Gesicht erschien so deutlich vor ihr, als stünde er an ihrer Seite. Ich komme , sagte er, und im nächsten Moment erwachte sie. Beinahe hätte sie erwartet, ihn vor sich zu sehen, so echt hatte das Traumbild gewirkt.
Die Sonne schien herab und ließ ihr feuchtes Kleid und ihre Haut schnell trocknen. Steif und bedächtig setzte sie sich auf; alles tat ihr weh. Hatte sie ihn wirklich gesehen? Es hatte sich so echt angefühlt. Seine Stimme war so deutlich zu hören gewesen. Einen Moment lang saß sie da, die Beine gerade vor sich ausgestreckt, und atmete ein paar Mal tief durch. Seit Alterin und Jared gegangen waren, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Unabhängig davon, was die Dschungelfrau gesagt hatte: Sie würde fliehen. Es wäre töricht, hier zu bleiben. Sie hatte einen schmalen Pfad gesehen, der sich nach Süden am Fluss entlang durch den Dschungel wand. Diesem Weg würde sie fürs Erste folgen, denn immerhin führte er in die richtige Richtung. Wie weit Salmut entfernt war, oder wie sie ihren Weg dorthin finden sollte, darüber versuchte sie nicht nachzudenken. Es war ganz einfach: Wenn sie überleben wollte, musste sie fliehen. Sie durfte Azoths Spiel nicht länger mitspielen, auch wenn sie akzeptieren musste, dass sie sein Nachkomme war. Doch er musste einsehen, dass sie ihn niemals als Verwandten betrachten würde. Die Gefühle, die er in ihr
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