Der Herr Der Drachen: Roman
bedienen. Du verschreckst mir ja meine Gäste. Sieh dir nur mal an, wie dreckig du bist! Das ist nicht gut fürs Geschäft.« Er machte sich wieder daran, Fleisch herunterzusäbeln. »Geh nach oben und wasch dich. Na los.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung Treppe, und der Ring in seinem Ohr funkelte. »Für heute Nacht habe ich ohnehin genügend Mädchen, und die riechen besser als du.« Er grinste und stopfte sich ein großes Stück Fleisch in den Mund. »Verschwinde!« Mit dem Messer wedelte er in ihre Richtung, die Augenbrauen hochgezogen. »Was bist du denn immer noch hier?«
Überrascht und dankbar, für heute verschont zu werden, legte Shaan rasch das Fleisch zwischen die Brotscheiben, brach sich eine Ecke vom Käse ab und stand auf. Sie hielt die dicke Stulle in einer Hand und kaute ein Stückchen Käse, während sie die Tür zur Treppe aufstieß.
»Natürlich will ich morgen zweimal so viel Fisch auf dem Tisch sehen!« Torgs Stimme verfolgte sie.
Sie hätte wissen müssen, dass es einen Haken gab. Herzhaft biss sie in das Brot und das Fleisch, während sie hinaufging. Die Geräusche aus dem Schankraum wurden zu einem dumpfen Summen, als sie ihr Zimmer betrat.
Eine Stunde später hatte sie sich gründlich gewaschen und fühlte sich etwas erfrischter. Sie zog ein sauberes Paar Hosen und ein
frisches Hemd an, aber als sie sich hinlegte, fand sie keine Ruhe. Sie starrte an die Decke und lauschte auf die Schritte der Männer und die kichernden, verführerischen Stimmen der Frauen, die sie sich aufs Zimmer holten. Für den Fall, dass sich einer von ihnen verirren sollte, schloss sie ihre Tür ab, aber in Wahrheit waren es nicht im Gasthaus herumstreifende Männer, die ihr zu schaffen machten.
Nuathin. Nun, da sie allein in ihrem Zimmer war, strömten die Ereignisse des Tages erneut auf sie ein. Die Stimme, die nach ihr rief und in ihren Gedanken flüsterte. Allein der Gedanke daran bewirkte, dass sich ihr Magen ängstlich zusammenkrampfte.
Ist er hier? Ist er zurück?
Wer sollte zurück sein? Das ergab keinen Sinn. Der Drache hatte verängstigt gewirkt, aber was sollte einem Tier seiner Größe schon Furcht einjagen? Oder besser: wer? Shaan hatte einen Kloß im Hals. Er konnte doch wohl nicht Azoth, den Gefallenen, meinen? Das war nicht möglich. Er war schon vor zweitausend Jahren von den Vier Verlorenen Göttern ins Zwielicht gestoßen worden und sollte niemals mehr wiederkehren. Warum sollte Nuathin glauben, dass er wieder zurück sei? Und weshalb könnte er das wollen? Sie setzte sich auf und lehnte sich gegen die Wand. Der Gefallene hatte viele der Drachen benutzt, um eine eigene Armee zu gründen, und er hatte sie in etwas anderes verwandelt. Er brachte sie dazu, ihre Leben zu opfern, sodass er eine neue Art von Kreaturen erschaffen konnte: die Alhanti, Krieger, die sowohl Drachen als auch Menschen waren. Wieso sollte sich ein Drache nach diesen Tagen zurücksehnen? Und was könnte der Grund dafür sein, dass Nuathin sie, Shaan, danach fragte? Sie wusste nichts. Sie sollte eigentlich gar nicht in der Lage sein, ihn in ihren Gedanken zu hören.
Sie rieb sich mit den Händen über die Arme und stützte sich auf das Fenstersims, von wo aus sie über die Lichter der Stadt schauen konnte. Sie gehörte auch nicht zu jenen Frommen, die die Verlorenen Götter verehrten und aus Knochen geschnitzte Abbilder neben dem Bett aufbewahrten. Und doch wandte sie sich
unwillkürlich mit einem stillen Gebet an sie. Sie waren zu Märtyrern geworden, um alle anderen zu retten, und vielleicht wachten sie jetzt noch immer - irgendwo - über sie. Shaan blickte zu den Sternen hinauf, deren Schein vom zurückgeworfenen Glühen der Stadt gedämpft wurde. Vielleicht waren sie dort oben?
Sie zögerte in ihren Grübeleien und verscheuchte die Gedanken. Seit wann neigte sie denn zu solcher Gefühlsduselei? Nuathin war nur ein alter, verwirrter Drache, der kaum noch seinen eigenen Namen kannte. Warum um alles in der Welt grübelte sie über Götter und Sterne nach? Gedankenverloren und mit leerem Blick starrte sie auf die unter ihr liegenden Gebäude und Straßen, bis ihr die aufgebrachten Stimmen auf dem Flur vor ihrer Tür auffielen.
Sie löste sich vom Fenster und lauschte auf die Stimme eines Mannes, der sich lauthals und mit schwerer Zunge über irgendetwas beschwerte. Als Antwort erntete er ein Kreischen, dann war ein klatschender Schlag zu hören. Shaan entriegelte die Tür und steckte den Kopf hinaus. In der Mitte
Weitere Kostenlose Bücher