Der Herr Der Drachen: Roman
des Flures stand ein kleiner Mann mit rundem Bauch. Er hatte sich vorgebeugt, drückte seine Hände in den Schritt und stöhnte, während Melita, eine der Huren, auf ihn einschimpfte und ihm gelegentlich einen leichten Hieb seitlich gegen den Kopf verpasste. Als sie den Blick hob, lächelte sie Shaan zu, ehe sie ihr Haar zurückwarf und ihr Geschrei in Richtung des geduckt dastehenden Mannes fortsetzte.
Shaan lächelte mitleidig: Männer, die so dumm waren, sich mit Melita einzulassen, bereuten es zwangsläufig hinterher. Gerade wollte sie zurück in ihr Zimmer gehen, als sie einen kurzen Blick auf Tuons blonden Haarschopf erhaschte, der eben die Treppe hinunter verschwand.
»Tuon!«, rief sie, doch die Kurtisane drehte sich nicht um. Stirnrunzelnd verließ Shaan das Zimmer und lief den Flur hinunter, um über das Geländer zu spähen.
»Tuon«, schrie sie noch einmal, aber Tuon setzte ihren Weg fort und schlüpfte durch die Küchentür. Wohin war sie wohl um diese Zeit unterwegs? Neugierig folgte Shaan ihr die Treppe hinunter
und huschte gerade noch rechtzeitig durch die leere Küche, um zu sehen, wie die Freundin kurz an der Hintertür des Wirtshauses zögerte, dann aber hinaus auf die Straße trat.
Ohne Zweifel sollte sie doch an diesem Abend arbeiten. Shaan krauste die Stirn. Tuon benahm sich in den letzten Wochen einfach so merkwürdig. Sie hatte nicht viel Zeit im Gasthaus verbracht, und wann hatte sie eigentlich zuletzt wirklich hier gearbeitet? Shaan kramte in ihrer Erinnerung, aber es fiel ihr einfach nicht ein. Tatsächlich erinnerte sie sich überhaupt nicht daran, dass Tuon nachts viel da gewesen wäre. Es war merkwürdig. Und was hatte dieser verschlossene Blick zu bedeuten, den Shaan auf ihrem Gesicht bemerkt hatte, als Tuon letztens mit dem Glaubenstreuen am Springbrunnen gesprochen hatte? Irgendetwas war da im Busch.
Ohne weiter darüber nachzudenken, was sie im Begriff war zu tun, folgte sie ihr durch die Hintertür.
6
T uon war in Richtung Stadtzentrum unterwegs. Nach Einbruch der Dunkelheit war ein kühlender Wind aufgekommen, und es war voll auf den Straßen, was es für Shaan schwierig machte, sie im Blick zu behalten. Gaststätten, Kaf- und Wirtshäuser hatten die Türen und Fenster weit aufgerissen, Tische und Stühle drängelten sich auf den Straßen, und allgegenwärtig war der Duft von gebratenem Fleisch. Aus jedem Fenster fiel heller Lichtschein, und die Luft war erfüllt vom Rufen und Schreien der Kinder.
Aber Tuon wandte sich vom Gedränge ab und schlüpfte in die Schatten der Seitenstraßen. Sie bewegte sich rasch und hatte sich ihren lila Seidenschal fest um den Kopf geschlungen, als wenn sie nicht gesehen werden wollte. Shaan musste ihre Schritte beschleunigen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, als sie das Seefahrer-Viertel weit hinter sich ließen und in das Kaufmanns-Viertel einbogen. Die Wege waren nun breiter, befestigt und zumeist menschenleer. Sie passierten die großen Gebäude der Händlergilde und der Geldhäuser mit ihren zugeklappten Fensterläden, die bereits zur Nacht geschlossen hatten, und liefen weiter eine Straße hinunter, die zu einem unbelebten Platz führte. Tuon überquerte ihn und blieb an der Treppe zu einem beeindruckenden Bau stehen. Der Tempel der Amora. Er war zu Ehren des Sklavenmädchens errichtet worden, das sie vor zweitausend Jahren von Azoth befreit hatte, und es war das spirituelle Herz der Stadt.
Der vordere Teil des Tempels bestand aus einem großen, quadratischen, mit einem Kuppeldach gedeckten Gebäude, das als öffentliches Zentrum der Verehrung diente. An beiden Seiten schloss sich eine hohe Mauer an, die den gesamten Komplex umgab.
Eine Reihe miteinander verbundener Bauten und Gärten bot Unterkunft für die Schwestern der Amora und ihre Bibliothek und war zugleich der Sitz des Konsuls der Glaubenstreuen. Eine breite, flache Treppe führte an Marmorsäulen vorbei empor, die einen Vorbau stützten, und endete vor einer mächtigen Doppeltür. Auf beiden Seiten sprudelten Springbrunnen und malten schimmernde Schatten an die Wände. Eine weiße Turmspitze erhob sich über dem Kuppeldach wie ein Lichtspeer, der in den Nachthimmel ragte. Shaan fragte sich, was Tuon hier zu suchen hatte. Im Schatten des Durchgangs zum Laden eines Weinhändlers verborgen, beobachtete sie Tuon, die den Blick noch einen Moment länger auf dem imposanten Bauwerk ruhen ließ, dann weiterschlich und seitlich auf einem schwach beleuchteten Pfad
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