Der Herr Der Drachen: Roman
sein können. Natürlich war alles viel zu einfach gewesen. Zweifellos machte sich die Schwester nun auf den Weg, einen der Glaubenstreuen oder, noch schlimmer, den Kommandanten zu finden. Wenn sie den Glaubenstreuen in die Hände fiele … Rasch verdrängte sie den Gedanken daran. Ihr blieb nun nur noch eine Möglichkeit, und das hieß, von hier zu verschwinden. Wenn es ihr denn gelingen mochte.
Sie sah sich im Raum um. Er war klein und spärlich möbliert. Es gab ein schmales Bett, einen quadratischen Tisch, der ganz an die Wand zu ihrer Rechten gerückt war, und eine Waschgelegenheit in der Ecke. An einem Nagel in der Mauer hing eine Lampe, deren warmes, gelbes Licht sich über den Boden ergoss, und in Brusthöhe ihr unmittelbar gegenüber befand sich ein kleines, viereckiges Fenster, dessen Läden mit einem Schloss gesichert waren. Shaan eilte dorthin. Das Schloss war kräftig und ziemlich neu, aber zu ihrer Erleichterung sah Shaan, dass es sich bei den Angeln um schlichte, betagte Exemplare handelte. Sie machte sich rasch an die Arbeit, nahm die Lampe vom Nagel und löste die Drahtschlinge, die als Aufhängung gedient hatte. Diese bog sie gerade und fuhr damit zwischen den Angeln und den Bolzen hin und her. Nach einer weiteren Drehung und einem scharfen Zug nach oben löste sich der Laden aus einer der beiden Verankerungen. Den Göttern sei Dank für alles, was sie bei der Straßenbande gelernt hatte, dachte sie. Und schon machte sie sich an der zweiten Angel zu schaffen, und bald hing der ganze Fensterladen schief herab, sodass sie das Glas dahinter erkennen konnte. Mühsam öffnete sie den Riegel, stieß den Flügel auf, zog sich hoch,
schob sich über das Fensterbrett und sprang hinaus. Sie fiel tiefer, als sie es erwartet hatte, und konnte sich nur mühsam einen Aufschrei verbeißen, als sie ungeschickt auf der Seite aufprallte. Scharfe Dornen von irgendeinem Gewächs stachen ihr in Bauch und Beine. Sie war in einem Gartenbeet gelandet.
Der Boden war feucht, und sie wurde vom kräftigen Geruch von Kräutern umfangen. Einzelne Stängel brachen, als sie sich aufrichtete. Gelbes Licht drang aus dem Zimmer über ihrem Kopf zu ihr heraus, und von irgendwo in der Nähe hörte sie Stimmengewirr aus einem anderen Raum. Zusammengekauert machte sie sich ein Bild von ihrer Umgebung.
Sie befand sich in einem großen Hof. Eine größere Anzahl von sorgfältig angelegten Beeten wechselte sich mit Wegen ab, sodass ein quadratisches Muster entstand, und sie konnte eben noch den mächtigen Schatten einer hohen Mauer erkennen, die alles umschloss. Weiter zu ihrer Rechten entdeckte sie noch ein geöffnetes Fenster, aus dem die Stimmen kamen und das einen quadratischen Lichtschein auf die darunter angepflanzten Kräuter warf. Shaan richtete sich auf, trat aus dem Beet und rannte leise und halb gebückt den Pfad entlang. Immer wieder suchte sie hinter und zwischen anderen Beeten Deckung. Sie befand sich dem offen stehenden Fenster gegenüber, als sie der Klang einer Stimme innehalten ließ. Sofort kauerte sie sich hinter einem Beet mit hochgeschossenen Blumen nieder, während Tuons Stimme klar und deutlich durch das geöffnete Fenster drang.
»Wird sich die Seherin wieder erholen, Ratgeber?«
Shaans Herz machte einen Satz. Sie lehnte sich gegen den Steinwall, der das Beet umgab, und lauschte.
»Ja, da bin ich mir sicher«, antwortete ein Mann. »Die Schwestern werden sich um Veila kümmern. Aber geht es dir denn gut, Tuon? Du siehst müde aus. Lässt er dich zu hart arbeiten?«
Tuon schnaubte, und Shaan hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme. »Ich bekomme ihn kaum zu Gesicht. Dies ist das erste Mal seit vielen Wochen, dass er meine Anwesenheit gewünscht hat. Obwohl ich natürlich …« Plötzlich brach sie ab.
»Was ist denn?«, fragte der Mann.
»Nichts, Morfessa, schon gut.«
Shaan war entsetzt. Tuon sprach mit dem Ratgeber der Führerin. Und das in einer Art und Weise, die nahelegte, dass sie ihn gut kannte. Shaan spähte hinter ihrem Versteck hervor, konnte aber nur den Rand eines Schreibtisches, einen leeren Stuhl, der davor stand, und die obere Hälfte einer Tür ausmachen. Sie griff nach der weichen Umrandung des Beetes. Sie sollte wegrennen. Inzwischen müsste die Schwester einen Jäger gefunden haben, und sie dürften sich auf die Suche nach ihr gemacht haben. Aber sie konnte einfach nicht aufstehen. Sie verharrte, starrte in das Zimmer hinein und lauschte.
Und während sie hineinschaute, wurde die Tür
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