Der Herr Der Drachen: Roman
sie fürchtete, er könnte sehen, wie es um ihr Herz stand. »Ich vertraue dir.«
Der Jäger führte Shaan den Flur hinunter und durch ein großes Arbeitszimmer, dann ließ er sie in einem winzigen, fensterlosen Raum zurück, dessen Wände vom Boden bis zur Decke von Regalen voller gebundener Pergamentbögen und -rollen sowie einer Menge staubiger Schachteln bedeckt waren. Die einzige Sitzgelegenheit war eine schmale Holzleiter. Shaan hockte sich darauf, lehnte sich gegen ein Regal und fragte sich, wie lange sie hier wohl ausharren müsste.
Sie machte sich wegen Tuon Sorgen. Was riskierte sie für sie? Und was würde mit ihr selbst geschehen, nun, da der Kommandant wusste, dass sie Tuon gefolgt war? Sie starrte auf den Boden. Es war dunkel im Raum, vom Lichtschein abgesehen, der durch den Spalt unter der Tür hereinfiel. Ihr blieb kein anderer Zeitvertreib, als die feine Staubschicht auf den Bodenfliesen und den tanzenden Schatten des Jägers, der auf der anderen Seite Wache hielt, zu beobachten.
Endlich hörte sie Stimmen und Schritte, und die Tür wurde aufgestoßen. Im plötzlichen Lichtschein musste sie die Augen zusammenkneifen, und sie hob eine Hand, um die Helligkeit abzuschirmen.
»Raus mit dir.« Es war Kommandant Rorc. Langsam stand sie auf und verließ die Kammer. »Hinsetzen!«, befahl er.
Der Jäger war fort. Shaan lief über einen hell gemusterten Teppich und ließ sich auf einem breiten Sofa nieder. Rorc blieb mit dem Rücken zu einem großen Schreibtisch stehen, und sein Schatten zeichnete sich auf den Fensterläden hinter ihm ab. Einen Moment lang betrachtete er sie; sie sagte nichts und starrte auf seine Stiefel.
»Tuon hat mich gebeten, dich gehen zu lassen«, sagte er schließlich. »Sie macht sich Sorgen um dich und hat allen Grund dazu.
Es war dumm von dir, dich hier einzuschleichen. Die Glaubenstreuen auszuspähen, das ist nichts, was auf die leichte Schulter zu nehmen ist.«
»Ich habe sie nicht ausgespäht.« Shaan sah zu ihm auf.
»Nein?« Er hob eine Augenbraue. »Und doch bist du dabei ertappt worden, wie du unter einem Fenster gelauscht hast. Wie nennst du das sonst, wenn das kein Ausspähen ist?«
Shaans Magen krampfte sich zusammen. »Ich habe nur an Tuon gedacht. Und ich habe nichts gehört.« Sie versuchte, seinem Blick standzuhalten, aber er musterte sie derartig eindringlich, dass sie die Augen wieder niederschlagen musste.
Er schwieg lange, dann fuhr er fort: »Du willst wissen, was Tuon hier treibt? Das kann ich verstehen. Du bist ihretwegen besorgt. Aber je mehr du weißt, umso größer ist das Risiko für sie.«
»Ihr setzt ihr Leben aufs Spiel?«, fragte Shaan.
»Nein. Du riskierst es, wenn du ihr überallhin folgst.« Er presste die Lippen zusammen. »Tuon ist sicher. Ich würde nie zulassen, dass ihr etwas geschieht.«
»Dann ist sie eine Eurer Spioninnen«, schlussfolgerte Shaan, und Rorc sah sie an. Der Schein der Lampe malte einen Streifen über seine Wange, und seine Augen lagen im Schatten.
»Sie ist sicher, das ist alles, was du wissen musst. Du wirst ihr nicht mehr folgen und sie auch nicht ausfragen, denn ansonsten wirst du sie gefährden, und das lasse ich nicht zu. Hast du mich verstanden?«
Shaan nickte.
»Gut.« Er schien zu entspannen. »Was mich nun noch interessiert, ist die Tatsache, dass Morfessa meint, dich wiedererkannt zu haben.«
Shaan zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.«
»Das hat er über dich ebenfalls gesagt.« Sein Blick wurde nachdenklich. »Shaan, du hast es geschafft, an meinen Jägern vorbei in den Tempel zu gelangen. Zwar bist du nicht sehr weit gekommen, aber der Eintritt ist dir gelungen, und das interessiert mich.« Er
lehnte sich zurück gegen den Schreibtisch und verschränkte die Arme. »Tuon sagte, du würdest in der Drachenanlage arbeiten. Wie viel bezahlen sie dir dort?«
»Genug«, entgegnete sie scharf.
»Du warst mal eine Straßendiebin, nicht wahr? Ein Kind der Banden?«
»Und wenn schon.«
»Warst du gut?«
»Es ist Jahre her«, entgegnete sie, denn sie witterte eine Falle. »Ich habe nur gestohlen, um zu überleben, wie wir alle.«
»Mir ist deine kriminelle Vergangenheit ganz gleich, ich interessiere mich nur für dein Können. Ich habe für viele verschiedene Fähigkeiten bei den Glaubenstreuen Verwendung. Nicht alle sind Jäger oder Verführer. Einige haben auch andere Talente.«
»Wie Tuon?«, fragte Shaan, und sein Gesicht verdunkelte sich.
»Du verdankst es nur ihr,
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