Der Herr Der Drachen: Roman
dunkle Wasser.
»Es war der letzte Tag der Stürme. Ich war bereit, ihren Schoß zu verlassen, als sie in eine Trance verfiel und hinausging. Sie war ungewöhnlich. Seitdem hat es niemanden mehr gegeben, der die Höhle während einer Queste verlassen hat, und sicher niemanden mit ihren Talenten. Sie hat mich in diesem Sturm zur Welt gebracht. Sie gebar mich und erstickte dann im Sand. Am nächsten Morgen wurde ich neben ihr gefunden. Viele konnten es nicht glauben. Kein Mann hatte je zuvor einen Sturm überlebt, ganz
zu schweigen von einem Kind. Einige behaupteten, als sie starb, habe sie etwas an mich weitergegeben, oder sie habe eine Übereinkunft mit Kaa getroffen.« Durch den Dampf hinweg beobachtete er Tallis.
»Mein Vater weigerte sich, mich anzunehmen. Er sagte, ich sei vom Fünften Führer berührt und würde dem Clan nur Schwierigkeiten bringen. Aber der Anführer mochte meinen Vater nicht und holte mich in sein Heim, um mich wie sein eigenes Kind aufzuziehen. Mein Vater nahm sein Messer und schnitt sich selbst die Kehle durch.«
Tallis’ Mund wurde trocken. Warum erzählte Karnit ihm all das?
»Damals waren die Zeiten noch anders. Vom Clan verstoßen zu werden, das bedeutete …« Karnit machte eine Pause und atmete geräuschvoll aus. »Die gut gemeinte Tat des Anführers erwies sich keineswegs als Wohltat. Viele konnten nicht vergessen, wie ich auf die Welt gekommen war. Es ist nicht leicht, in diesem Clan anders zu sein, Tallis .« Halb zischte er, halb flüsterte er seinen Namen. »Viele halten Unterschiede für zerstörerisch und versuchen, den Clan davon zu befreien.«
»Und doch bist du inzwischen Anführer«, sagte Tallis leise. »Sei auf der Hut, Junge!« Karnits Augen funkelten. »Ich bin tatsächlich jetzt der Anführer.« Er suchte Tallis’ Blick, und seine Stimme war nun leise und bedrohlich geworden. »Weil zwei Männer sich hassten, durfte ich überleben. Die Führer haben mir eine Chance gegeben; ich wurde zu ihrem Werkzeug, den Clan rein zu halten, denn wer könnte besser Andersartigkeiten aufspüren als einer, dem dieser Makel so vertraut ist wie die eigene Haut?«
Tallis wurde kalt bis ins Mark. Es war unmissverständlich klar, was ihm Karnit sagen wollte. Der alte Mann streckte seine muskulösen Arme aus, drehte sie langsam und betrachtete sie.
»Ich bin inzwischen ein alter Mann von dreiundsechzig Jahren, und doch ist noch so viel Kraft in mir. Kraft zu tun, wofür die Führer mich ausersehen haben.«
In seinen hellen Augen lag ein harter Ausdruck, als er Tallis unverwandt
ansah und sich zu ihm beugte. »Und ich werde dafür sorgen. Ich werde alles andere, das mein Volk schwächen könnte, ausfindig machen und entfernen. Unreines Verhalten, Fähigkeiten, die gegen das Gesetz verstoßen, und die Blutlinien, die sich mit jenen mischen, die nicht aus den Ländern des Sandes stammen. Dieser Clan soll rein sein.« Er hob seine Füße aus dem Wasser, lief zum Eingang der Höhle und griff nach seiner Lampe.
»Der Kreis hat beschlossen, dass wir an der Zusammenkunft teilnehmen. Ich habe eine Handvoll Männer ausgewählt, die mich begleiten werden, und du bist unter ihnen. Wir werden morgen beim ersten Strahl der Sonne aufbrechen.«
Tallis schaute überrascht auf und sah ein gefährliches Lächeln auf den Lippen des Anführers, das dessen gelbliche Zähne entblößte. »Was deine Position in diesem Clan angeht, Tallis, so mögen die Führer beschlossen haben, dass du erst mal bleiben sollst; aber ich war dabei, Junge. Ich habe gesehen, was du getan hast, ich weiß , was du bist, und es gibt in diesem Clan keinen Platz für dich.« Er spuckte neben sich ins Wasser, drehte sich mit einem vernichtenden Gesichtsausdruck um und ging davon.
Tallis blieb in der Quelle sitzen, außerstande, sich zu bewegen, und eine eisige Kälte hatte ihn trotz des heißen Wassers fest im Griff. Er wusste es. Karnit wusste es. Tallis hatte es in diesem kalten Hohn auf den dünnen Lippen gelesen und die Verachtung in seinem Blick gesehen. Karnit wusste, dass er nicht Haldanes wahrer Sohn war, und er wollte, dass er ging und dass er aus seiner Nähe und aus dem Clan verschwand. Daran gab es keinen Zweifel. Seine Worte waren unmissverständlich gewesen. Der Anführer hielt ihn für eine Seuche innerhalb des Clans, für einen Schmutzfleck, der endgültig ausradiert werden musste.
Tallis starrte in den Dampf und das Wasser, in dem Blasen aufstiegen, und ein düsterer Gedanke keimte in ihm auf, der ihn in Furcht
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