Der Herr der Falken - Schlucht
ihm noch einen Becher Met nach. Ragnor, dem der dreiste Ton nicht entging, zog es vor zu schweigen und nahm stattdessen einen tiefen Schluck.
Laren begann langsam: »Ich erzähle euch von dem großen König Tarokamin, der in einem Land weit im Süden, in Ägypten lebte; ein Land, das der Länge nach von einem Ruß durchzogen wird, den sie Nil nennen. Es besteht größtenteils aus Wüste, und man sieht, soweit das Auge reicht, nur gelben Sand. Allein die Ufer des Nils sind fruchtbares Ackerland. Dieser lange Fluß ist die Lebensader Ägyptens. Vor tausenden von Jahren haben die Könige dieses Landes riesige Steinmonumente als Grabstätten erbaut, in die sie sich nach ihrem Tod mit unschätzbaren Reichtümern einmauem ließen. Das Fundament eines solchen Steinmonuments hat die Form eines gleichschenkligen Dreiecks, und auf ihm erheben sich dreieckige Seitenmauern, die zu einer Spitze zusammenlaufen. Man nennt solch ein Monument eine Pyramide.«
»Ein solches Land gibt es nicht«, unterbrach Ragnor. »Kein Land heißt Ägypten. Und gar diese Pyramiden! Wer sollte sich sinnlose Steinmonumente als ein Grabmal errichten? Lächerlich. Ich habe viel studiert und weiß, daß so etwas nicht existiert.«
»Es ist nur eine Geschichte, Herr, mehr nicht«, versicherte Laren und lächelte gequält. »Hört zu und erfahrt Tarokamins Geschichte. Er wollte sich ein Denkmal bauen lassen, das größer war als je ein König vor ihm hat eines errichten lassen, ja noch größer als das seines Vaters und das seines Großvaters, dessen Grabmal als das größte im ganzen Land galt. Einem Baumeister aus Babylon erteilte er den Auftrag, die
Bauarbeiten zu überwachen. Er heuerte hunderte von Aufsehern an. Hunderttausend Sklaven schlugen die Quader aus Steinbrüchen und schafften sie an den Ort, wo das riesige Bauwerk entstehen sollte.
König Tarokamin vermählte sich, und seine Frau schenkte ihm einen Sohn, der ihm mehr am Herzen lag als seine Gemahlin, als seine Armee, als all seine Juwelen und Reichtümer. Nur sein Grabmal bedeutete ihm noch mehr. Nach dem Tode würde er ins ewige Leben eingehen und unsterblich sein, denn alle Menschen nach ihm würden dieses Monument sehen und wissen, daß er ein mächtiger und reicher König war.
Die Jahre verstrichen. Sein Sohn wuchs zu einem schönen, kraftvollen jungen Mann heran. Jeden Tag seines Lebens blickte er auf das Monument seines Vaters, das bereits größer war als jedes Bauwerk, das er bisher gesehen hatte. Zweitausend sich an den Händen haltende Männer konnten das Fundament der riesigen Steinpyramide nicht umspannen. Bald würde es fertig sein, dieses Mausoleum, das einst die sterblichen Überreste seines Vaters in kostbar ausgestatteten Totenkammern tief im Kern des Monuments beherbergen sollten.
Der Tag kam, an dem der König seinem Sohn eröffnete, er müsse seine Schwester heiraten. So war es Brauch im alten Ägypten, eine Sitte, die uns befremdlich erscheint. König Tarokamin, der keine Schwester hatte, war seinerzeit mit einer Prinzessin aus einem benachbarten Königreich verheiratet worden.
Sein Sohn jedoch haßte seine Schwester aus tiefstem Herzen und eröffnete dem Vater, er werde sie nicht heiraten. Er versicherte ihm, es sei ihm unmöglich, Kinder mit ihr in die Welt zu setzen, da er sie abgrundtief hasse. Er sagte, sie sei böse, habe schon viele Liebhaber gehabt, und sie sei eitel und habgierig. Nein, er wollte sie um keinen Preis heiraten.
Sein Vater drohte, wenn er sich weigerte, würde er sie seinem jüngeren Bruder geben. Und er, der Lieblingssohn, würde aus dem Land verbannt werden. Der Sohn verneigte sich tief. Er wußte, daß sein Vater sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. Er wußte, daß er sich dem väterlichen Wunsch beugen mußte. Außerdem hatte er Mitleid mit seinem Bruder, der ein sanfter, willensschwacher Prinz war und der nicht das Zeug zum König hatte.
Am nächsten Tag war er verschwunden und mit ihm zwei Diener und sechs Soldaten des Königs. Tarokamin war tief betrübt. Er schickte Suchtrupps nach ihm aus. Doch sein Lieblingssohn blieb spurlos verschwunden. Erst drei Tage nach dem Tod des alten Königs tauchte er wieder auf.«
Laren hatte die Stimme gedämpft, und ihre letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.
Es herrschte absolute Stille, die Menschen hingen gespannt an ihren Lippen. Laren lächelte: »Und nun sagt mir, was aus dem Königssohn geworden ist.«
Merrik lachte. »Sie schafft es immer wieder, eine
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