Der Herr der Falken - Schlucht
vorbei an geschäftigen Männern und Frauen, spielenden Kindern, Ziegen, Kühen und gackernden Hühnern.
Kerek schlenderte unbehelligt den Weg zur Mole hinunter, wo rege Betriebsamkeit herrschte. Männer kamen ihm entgegen, andere brachten Proviant und ihre Habseligkeiten zum Schiff. Anscheinend glaubten einige von Ragnors Leuten tatsächlich, er entlohne sie in Silber. Doch Kerek hatte andere Sorgen.
»Hast du sie?« fragte Ragnor mit Blick auf das Bündel über Kereks Schulter.
»Ja. Ich habe sie geknebelt und gefesselt. Ich muß mit Ottar sprechen. Er hatte kein Recht sie zu schlagen. Er hat sie verletzt.«
»Ich gab ihm Anweisung, sie nötigenfalls zu schlagen. Laß ihn zufrieden, Kerek!« entgegnete Ragnor und entfernte sich. »Ich muß noch mal ins Haus«, rief er über die Schulter. »Die Männer sollen schon ihre Plätze an den Rudern einnehmen.«
Kerek blickte Ragnor mißtrauisch nach. Was hatte er denn noch im Haus vergessen? Er brachte Chessa unter eine Lederplane im Heck, wo die wenigen vom Unwetter verschont gebliebenen Dinge verstaut waren. Behutsam legte er sie ab und befreite sie von der Verschnürung und der Decke. In ihren Augen stand tödlicher Haß. Kerek prüfte ihre Handfesseln und zog sie fester. »Tut mir leid, Prinzessin, es muß sein.« Sie gab einen wütenden Gurgellaut von sich. Er schüttelte seufzend den Kopf und ließ sie allein. Dreizehn Männer hatten sich bereit erklärt, mit nach York zu kommen. Auch er würde sich an ein Ruder setzen und hoffte, auch Ragnor würde sich in die Riemen legen. Sie mußten zügig vorankommen, da niemand wissen konnte, wie lange es dauerte, bis Chessas Verschwinden entdeckt wurde und die Verfolgungsjagd begann.
Eile war geboten. Er wandte sich an Torric, der an seinem
Steuerruder saß, das gebrochene Bein gestreckt vor sich auf einer Kiste ruhend. »Wieso ist Ragnor nochmal ins Haus zurück?«
Torric rollte mit den Augen. »Du wirst es nicht glauben, Kerek.«
»Was?«
Da hörten sie einen wilden Schrei, hoben die Köpfe und sahen Ragnor den Weg zur Mole herunterlaufen, und über seiner Schulter hing die bewußtlose Utta. Kerek war fassungslos. Er hatte Ottar angewiesen, Kissen und Decken in Chessas Bett zu packen, um den Eindruck zu erwecken, die Prinzessin schlafe noch. Damit hätten sie Zeit gewonnen. Und nun hatte dieser Trottel alles verdorben.
Kerek versuchte zu retten, was zu retten war. Er brüllte: »Alle Mann an die Ruder! Sobald Lord Ragnor an Bord ist, legt ihr euch in die Riemen, bis euch der Brustkasten zerspringt, sonst landet ihr als Fischfutter im Meer.«
Ragnor erreichte das Schiff, und Kerek brüllte ihm entgegen: »Laßt sie fallen, Ragnor. Sie verfolgen uns und bringen uns alle um.«
»Nein. Sie braut mir Met und läßt sich von mir beschlafen. Ich habe die Blicke gesehen, die sie mir zuwirft. Sie will mich. Es ist ihr unwichtig, daß ich sie nicht heiraten kann. Du wirst sehen. Wenn ich sie besteige, wird sie meinen Namen schreien. Was meinst du, soll sie Prinz Ragnor oder Lord Ragnor schreien?«
»Du Vollidiot, laß sie fallen!«
Ragnor hörte nicht auf ihn, ließ das Mädchen von der Schulter gleiten und warf sie einem seiner Männer, dem riesigen Olya zu, der sie wie einen Ball auffing. Ragnor schwang sich über den Bootsrand und schrie aus Leibeskräften: »Legt euch in die Ruder, Hundesöhne! Rudert!«
Doch es war schon zu spät. Kerek mußte hilflos Zusehen, wie die Männer laut schreiend den Pfad herunterliefen, Schwerter, Streitäxte und Messer schwingend. Manche hatten Steine vom Wegrand aufgehoben. Angeführt wurde der Zug von Uttas Ehemann Haakon.
Dahinter rannten Rorik, Merrik und Cleve. Kerek wußte, sein letztes Stündlein hatte geschlagen. Nun würden alle Männer auf dem Schiff für diesen Narren sterben, ausnahmslos.
»Befehlt Olya, Utta zurück auf die Mole werfen, sonst werden wir alle abgeschlachtet!«
Ragnor brüllte unbeirrt: »Los, rudert!«
Die Männer gehorchten Ragnors Befehl und legten sich mächtig in die Riemen. Doch Haakon und zwei Dutzend Krieger rannten durch das aufspritzende Wasser, klammerten sich am Bootsrand fest und kletterten an Bord. Ein erbitterter Kampf entbrannte.
Torric versuchte aufzustehen. Rorik zog ihm die flache Schwertklinge über den Schädel. Torric sackte neben seinem Steuerruder zusammen. Olya legte Utta nicht eben sanft auf den Schiffsplanken ab, zog sein Schwert und leistete erbitterten Widerstand. Eine Klinge durchbohrte ihm den Bauch, eine andere die
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