Der Herr der Finsternis
musst doch schon von den Sonnensteinen gehört h a ben!«
»Das ist doch ein Märchen«, brachte Len mit zitternder Stimme he r vor.
»Was heißt hier Märchen?! Zu jener Zeit hatte sich der Nebel noch nicht über uns zusammengezogen. Von Zeit zu Zeit drang die Sonne durch, und die Sonnensteine, die in unseren Bergen abgebaut wurden, speicherten ihr Licht.«
»Aber inzwischen leuchten sie längst nicht mehr«, brachte Len matt hervor. Mir war klar, dass er Angst hatte, sich zu sehr an diese Hof f nung zu klammern.
»Sicher – aber nur, wenn du den Stein in der Dunkelheit aufb e wahrst. Legst du ihn dagegen in eine Kiste, die mit Spiegeln ausg e kleidet ist, die das Licht zurückwerfen … Was muss ich tun?«
»Stell das Kästchen aufs Bett und öffne es«, befahl der Kater.
Schon im nächsten Moment spürte ich Licht auf meinem Gesicht. Warmes, zärtliches Sonnenlicht! Der Kater schnurrte.
»Weshalb leckt er denn an dem Stein?«, fragte Gert erstaunt.
»Das Wahre Licht ist seine Nahrung«, erklärte Len. »Er braucht neue Kraft. Stimmt doch, oder?«
»Stört mich jetzt nicht«, brummte der Kater. »Wird er lange leuc h ten?«
»Fünf Minuten vielleicht, schließlich ist es ja bloß ein kleiner Stein«, sagte Gert. »Reicht das?«
»Lassen wir uns überraschen«, meinte der Kater mit einer Stimme, die schon viel kräftiger klang.
Ich selbst lag da und wartete. Gert sagte leise etwas, das sich entw e der an mich oder an Len richtete. »Wenn wir schon nicht gewinnen konnten, dann wollten wir wenigstens vor dem Tod noch einmal das Wahre Licht sehen. Jedenfalls war das unsere Überlegung. Keine So r ge, ich habe nicht die Absicht zu sterben. Ich bin auch nicht aberglä u bisch.«
Irgendwann legte mir der Kater die Pfoten aufs Gesicht und beugte sich über meine Augen. »Salbe! Wie antiquiert!«, schnauzte der Kater verächtlich. »Kräuter und Chemikalien! Halt still, Danka, das tut jetzt weh.«
Seine kleine, raue Zunge schleckte mir über die Lider. Die Prozedur dauerte lange, tat aber überhaupt nicht weh, sondern kratzte nur ein bisschen. Len und Gert schwiegen, als wären sie hypnotisiert worden.
»In Ordnung«, stellte der Kater schließlich fest. »Das dürfte gen ü gen. Natürlich vermag ich die genaue Wirkungsweise nicht zu erkl ä ren, ich bin ja kein Arzt. Aber jedenfalls wirst du wieder sehen kö n nen.«
»Aber ich sehe überhaupt nichts!«, schrie ich so laut, dass der Kater vor Schreck hochsprang.
»Dann mach die Augen auf«, fauchte er. »Du dummer Junge!«
Da öffnete ich die Augen.
Als ich den Kater sah, konnte er mir nichts vormachen: Seine Miene war freundlich – freundlich und schuldbewusst! Sein Fell leuchtete genauso hell wie früher. An seiner Schnauze klebte Salbe.
Ich blickte zu Gert hinüber. Er war wirklich alt, bestimmt schon sechzig oder siebzig. So alte Menschen hatte ich in dieser Welt noch nie gesehen. Er hatte graue Haare, ein Gesicht voller Falten und trug ein verwaschenes Hemd, dazu aber eine Krawatte, genau wie die S e nioren der Flügelträger. Gert schaute mich verlegen an.
Auch Len beobachtete mich, weinte aber leise. Er konnte damit ei n fach nicht aufhören. Ich wusste aber schon, dass er gleich lächeln und mir versichern würde: Jetzt ist wieder alles in Ordnung, Senior!
»Jetzt ist wieder alles in Ordnung, Senior!«
»Das sehe ich auch«, feixte ich. »Jetzt ist wieder alles wie früher, oder?«
»Bestimmt.« Len zuckte unsicher mit den Schultern. Abermals wusste ich schon im Voraus, was er gleich sagen würde. »Nur … deine Augen leuchten so komisch.«
»Das stimmt doch nicht, oder, Kater?«
»Wie dumm ihr alle seid«, brummte der Kater, ohne mit dem Putzen aufzuhören. »Ihr bräuchtet euch bloß mal ein klassisches Gemälde anzusehen, dann würdet ihr feststellen, dass die Augen der Menschen durchaus leuchten können. Oder schaut euch diejenigen an, die euch lieben. Schaut euch ein Kind oder einen Greis an. Das ist das Licht, das in euch selbst leuchtet. Bei den einen funkelt es immer, bei and e ren ist es für alle Zeiten erloschen. Ach, ihr Dummköpfe … «
Ich blickte Len an. »Deine Augen leuchten auch«, behauptete ich – wobei ich nur ganz leicht schwindelte.
»Dann reflektieren sie bloß dein Licht«, konterte Len prompt. Er stand auf und wischte sich die restlichen Tränen ab. Offenbar hatte er die ganze Zeit über geweint, nachdem ich blind geworden war. Selbst als er mit mir gesprochen hatte, hatte er geweint, bloß eben
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