Der Herr der Habichts - Insel
viereckigen Segel und des Schreiens der Möwen über ihren Köpfen, denn ihre Stimme war böse und voller Zorn. Und er war froh darüber, denn er hatte sie besiegt. Das gab ihm ein gutes Gefühl. Er ließ seinen Fuß, wo er war, stellte ihn diesmal allerdings so, daß sie nicht zubeißen konnte.
Er beugte sich über sie und sagte leise in ihr Ohr: »Versprichst du, nicht über Bord zu springen, wenn ich meinen Fuß wegnehme? Versprichst du, mich nicht ins Wasser zu werfen?«
»Glaubst du, ich bin so verrückt, daß ich über Bord springe? Ich will nicht sterben . . .«
»Dann versuchst du vielleicht, mich über Bord zu werfen. Du zwingst mich, dir Fesseln anzulegen. Du zwingst mich, dich mit Füßen zu treten. Du liegst nicht sehr bequem. Bald schwappt das Wasser über den Bootsrand und ergießt sich in dein Gesicht. Salzwasser schmeckt nicht besonders gut. Versprichst du, liegenzubleiben, wenn ich meinen Fuß von dir nehme und dir die Fesseln löse? Keine Gewalt mehr?«
Sie nickte. Sein Fuß stand schwer auf ihrem Nacken, und ihre Hand- und Fußgelenke waren taub geworden in der festen Verschnürung. Auf den Planken des Schiffes stand bereits das Wasser, und bald würde es ihr Gesicht erreichen.
Er hob den Fuß. Einen Augenblick blieb sie liegen. Er wollte ihr schon helfen, doch mit einem Ruck richtete sie sich auf und hielt ihm die gefesselten Hände entgegen. Er band sie los. Sie rieb sich den Nacken, dann die Handgelenke, und massierte ihre Knöchel. »Das zahle ich dir heim«, knurrte sie, ohne ihn anzusehen.
Rorik lächelte nachsichtig. Hafter hatte einen Strick um Enttis Taille geschlungen und das andere Ende um seinen Gürtel gebunden. Vielleicht sollte er das auch mit Mirana so machen. Sie hatte sich beruhigt und war besiegt. Sie saß mit herabhängenden Schultern da, starrte ins Leere und rieb sich die Handgelenke. Sie hatte sich völlig in sich selbst zurückgezogen. Rorik runzelte die Stirn.
Als sie die Habichtsinsel erreichten, goß es in Strömen. Bis auf die Haut durchnäßt sprangen sie auf die Mole. Mirana schleppte sich schweigend neben Entti den Weg zum Langhaus hinauf. Der Regen prasselte unablässig in kalten Schauern auf sie herab. Niemand hielt sich im Freien auf. Sogar die Tiere hatte man ins Haus genommen. Die Luft im Raum war rauchig und machte einem das Atmen schwer. Es gab eine reichliche Mahlzeit, und der Met schmeckte süß und warm. Die Frauen redeten wenig, die Kinder spielten und zankten sich. Kerzog bellte wild, als eines der Kinder ihm einen Lederball zuwarf, hinter dem er dann herjagte. Der riesige Hund wurde nicht müde, den Ball mit der Nase anzustupsen. Die trägen Gespräche wurden begleitet vom ständigen Klappern des Webstuhls und dem Surren des Spinnrades. Eine Ziege kaute an einem Strick. Alles war normal und friedlich.
Entti saß neben Mirana, beide nähten an den Kleidern, die die Alte Alna ihnen gegeben hatte. Die Männer machten einen weiten Bogen um die Ausreißerinnen. Auch die Frauen mieden sie, doch nicht weil sie wütend auf sie waren, sondern weil die Männer ihnen verboten hatten, mit ihnen zu sprechen. Erna brachte ihnen Essen.
»Raki erzählte, was geschehen ist«, sagte sie leise. »Ich bin stolz auf euch. Ihr wart sehr tapfer.« Und dann war sie wieder weg.
Mirana vermutete, daß Rorik und seine Männer den Frauen strikte Anweisungen gegeben hatten, sie zu meiden. Einmal sah Mirana, wie Amma ihr zuzwinkerte und dann mit einem breiten Grinsen zu Entti blickte. Die Frauen wußten also, daß Entti ihnen Theater vorgespielt hatte. Sobald der Regen aufhörte und die Männer das Haus wieder verlassen konnten, würden sich die Frauen zu ihnen wagen. Mirana wollte sich bei Asta und Alna dafür entschuldigen, sie gefesselt zu haben. Sie schienen jedoch nicht böse auf sie oder Entti zu sein.
»Ich hätte ihn umbringen sollen«, sagte Entti, zu Hafter blickend, der einen tiefen Schluck Met aus dem Holzbecher nahm und über etwas lachte, was Askhold sagte. Sie stach die Nadel heftig in den Wollstoff.
»Selbst dann hätten wir Rorik nicht entwaffnen können«, antwortete Mirana, ohne aufzusehen. »Er ist klug und stark.«
»So klug ist er gar nicht«, widersprach Entti. »Du hältst Rorik für einen Helden, nur weil du seine Gefangene bist. Hätte ich Hafter getötet, hätte dein Rorik mich getötet. Er hätte keine andere Wahl gehabt.«
Mirana hob den Kopf. »Du glaubst doch nicht, daß ich Rorik nur deshalb für klug halte, weil ich seine Gefangene bin?
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