Der Herr der Habichts - Insel
Sie war eine hochgewachsene Frau, und ihr weizenblondes Haar war von wenigen grauen Fäden durchzogen. Sie war schwerbusig, ihr einst schönes Gesicht war von bitteren Furchen durchzogen. Sie wirkte hart und unversöhnlich.
Toras Schultern waren sehr gerade, ihre Schritte fest, ihr Mund ein schmaler Strich. Mirana bereitete sich auf einen Angriff vor und legte das Kleid beiseite, an dem sie nähte. Es war ein hellblauer Wollstoff, ein Geschenk der Alten Alna, die ihn seit Jahren für sich aufbewahrt hatte.
Mirana blickte Tora entgegen und wünschte, sie könne sie davon überzeugen, daß sie weder ihr noch ihrer Familie etwas Böses antun wollte. Sie wünschte, sie könnte sie von ihrer Unschuld an den Verbrechen ihres Bruders überzeugen. Sie öffnete den Mund, doch Tora gebot ihr zu schweigen. »Ich komme, um dich zu warnen«, sagte sie. Mehr nicht.
Mirana nickte.
»Sira wird dich töten. Ich kann sie nicht davon abhalten.«
»Du forderst mich auf zu gehen?«
»Ja. Geh. Sofort. Wenn du stirbst, denkt mein Sohn, er lädt noch größere Schuld auf sich. Er ist ein guter Mensch. Und ich will nicht, daß er sich noch mehr quält. Ich will auch nicht, daß er den Verlockungen einer ehrlosen Frau erliegt.«
Mirana blickte auf das blaugrün schimmernde Meer hinaus. »Glaubst du wirklich, ich habe Rorik überlistet, mich zu heiraten?«
»Nein. Rorik sagte, du seist in der Hochzeitsnacht noch Jungfrau gewesen. Nein, du bist keine Dirne. Doch Sira will das nicht glauben. Geh, Mirana, sonst tötet sie dich. Oder du tötest sie, weil du dich gegen sie verteidigst. Ihr Tod würde Rorik vernichten. Er kennt sie sein ganzes Leben lang, er weiß, daß sie ihn liebt und seine Frau werden wollte. Seine Heirat mit dir hat sie tief getroffen. Er wäre gezwungen, weitere Rache zu üben, wenn du sie umbringst. Hör auf mich, Mirana. Geh. Verlaß die Insel.«
»Gut, ich gehe.«
»Du willigst ein?« fragte sie verblüfft.
»Ich will Rorik nicht noch größeres Leid zufügen. Er verdient es nicht.«
»Nein, er verdient es nicht.«
Hinter Mirana tauchte ein Schatten auf. Sie fuhr herum, im Glauben, es könne Sira mit einem gezückten
Messer in der Hand sein. Doch es war Roriks Bruder Merrik. Breitschultrig und groß, würde er bald, wenn er seine Mannesjahre erreicht hatte, ebenso kraftvoll sein wie Rorik. Seine Augen waren kalt, und ein harter Zug lag um seine Lippen.
»Glaube ihre Lügen nicht, Mutter«, stieß er zornig zwischen den Zähnen hervor.
Und Mirana wußte, daß Roriks Familie sich nie ändern würde und daß es keine Hoffnung gab für sie und Rorik.
»Sie verläßt die Insel, Merrik. Sie hat es versprochen.«
Merricks Blicke schweiften unstet in die Runde, dann sagte er: »Gut, daß Rorik nicht hier ist. Ich weiß nicht, was er tut, wenn er hört, daß sie geht. Aber ich traue ihr nicht, Mutter. Sie lügt. Sie geht heimlich zu Rorik und umschmeichelt ihn mit ihren Verführungskünsten, damit er vergißt, was er Inga, seinen Kindern und uns schuldig ist.«
»Was ist er ihnen denn schuldig, Merrik?« fragte Mirana mit ruhiger, fester Stimme.
»Er schuldet ihnen Rache!«
»Richtig. Und warum denkst du, daß auch ich seine Rache verdiene?«
»Halt den Mund, du dreckige Schlampe! Du hast meinen Bruder um den Verstand gebracht mit deinen Lügen, deinen Versprechungen und deinem geheuchelten Mitgefühl.«
Mirana seufzte. Es war hoffnungslos. »Das ist nicht wahr, Merrik. Ich habe deiner Mutter bereits gesagt, daß ich gehe. Ich möchte Rorik nicht noch mehr quälen als ihr es tut, indem ihr seine alten Wunden wieder aufreißt.«
»Meine zwei kleinen Enkel wurden vom Schwert deines Bruders aufgespießt! Es waren hübsche Kinder, so glücklich und lebensfroh. Dein Bruder hat sie abgeschlachtet!«
»Ich weiß«, sagte Mirana. »Doch denkt daran: Ich bin Roriks Gemahlin, auch wenn ich die Habichtsinsel verlasse. Er sehnt sich nach Kindern, Tora. Er sehnt sich danach, glücklich zu sein. Er braucht eine Verbindung frei von Schuld und Schmerz, eine von den Göttern gesegnete Verbindung. Was willst du für ihn tun? Seinen Haß weiter schüren? Ihn immer wieder an die grauenvollen Morde erinnern? Ihm noch mehr Schuld aufladen, bis er endlich meinen Halbbruder getötet hat? Wann wird das aufhören, Tora?«
»Mit deinem Tod«, sagte Sira, die plötzlich neben Tora auftauchte. »Ich will nicht, daß du gehst, ich will, daß du stirbst. Ob durch meine oder durch Roriks Hand, ist egal.«
»Sei still, Sira«, sagte Tora
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