Der Herr der Habichts - Insel
»Dem Kerl zeige ich es schon, wenn er mich dazu zwingt«, meinte sie, den Blick auf das Holzbrett mit Bärenfleisch gerichtet, das sie trug. Sie drehte sich um und begann, gemeinsam mit den anderen Frauen den Gästen vorzulegen.
Und Rorik? dachte Mirana. Er saß schweigend zwischen Bruder und Vater, ohne sein Essen anzurühren. Nur dem süßen Rotwein von den Hängen des Rheins, den sein Vater als Gastgeschenk mitgebracht hatte, sprach er zu. Hoffentlich trank er nicht zuviel, denn er vertrug ihn nicht. Sie wagte nicht, ihn anzusprechen. Er hatte sie seit der Szene vor wenigen Stunden nicht beachtet. Sira saß mit gesenktem Kopf neben Roriks Vater und stocherte im Essen herum. Ihr Haar glänzte wieder silbern im Fackelschein.
Mirana füllte ihren Teller und setzte sich zu den Frauen. Asta sagte: »Das Gewand kleidet dich besser als mich, Mirana, wegen deiner schwarzen Haare und deiner schönen weißen Haut.«
»Wart nur, bis sie das blaue Wolltuch genäht hat, das ich ihr geschenkt habe«, sagte die Alte Alna. »Dagegen sieht dein Kleid aus wie ein alter Fetzen. In meiner Jugend waren meine Augen so blau wie das Tuch. Ich war schöner als ihr alle miteinander.«
»Daran erinnert sich heute bloß keiner mehr, denn es ist schon lange her«, meinte Erna und kicherte hinter vorgehaltener Hand.
»Das Tuch ist wahrscheinlich voller Mottenlöcher, so lange bewahrst du es schon auf«, lachte Asta und stupste die Greisin scherzhaft in die knochigen Rippen. »Kannst du dich überhaupt noch erinnern, wann das war?«
»Ihr redet und redet. Ihr werdet alle alt und zahnlos, darauf könnt ihr wetten.«
Die Frauen lachten und scherzten, als sei alles normal, dachte Mirana. Ihre Welt schien in Ordnung. Die Frauen haßten sie nicht. Anscheinend hatten sie sich von Tora abgewandt und für Mirana entschieden.
Utta wandte sich schüchtern an sie: »Deine Kräutersoße schmeckt köstlich, Mirana. Darf ich das nächste Mal zuschauen, wie du sie machst?«
Mirana nickte lächelnd. Entti saß stumm wie ein Fisch über ihren Teller gebeugt und zwang sich zu essen, weil sie Kraft brauchte. Ihr volles, braunes Haar verbarg ihr Gesicht. Und Hafter starrte sie an wie ein hungriger Geier.
Auch Mirana mußte sich zum Essen zwingen. Entti hatte schon Essen und Wasser beiseite geschafft und es in der Nähe des kleinsten Boots versteckt. Mirana mußte noch ein Messer besorgen, doch das würde nicht schwierig sein. Sobald die Männer schliefen, die meisten vom Met berauscht, würde sie einem von ihnen heimlich die Waffe aus dem Gürtel ziehen. Sie fragte sich, wieso Rorik ihr das Messer nicht abgenommen hatte. Ob er wirklich fürchtete, sie könnte es Sira zwischen die Rippen stoßen?
Sie aß und nippte am süßen Met, hörte den Frauen zu, die sich über das Räuchern von Heringen unterhielten und darüber, ob der Rauch von Eichenholz oder Fichtenholz aromatischer sei. Sie beobachtete Roriks Eltern, seinen Bruder Merrik und Sira, deren Haß zu schlummern schien, doch wie lange wohl? Sie kam sich vor wie ein Eindringling in einem feindlichen Lager. Sira hob gelegentlich den Kopf um blickte feindselig zu ihr herüber. Tora schwieg in sich gekehrt.
Nachdem alle Schüsseln, Schalen, Krüge und Becher gespült waren, schickte Mirana die Sklavinnen zu Bett. Sie und Entti suchten sich einen Platz in einer Ecke des Langhauses, nicht weit vom Eingang entfernt.
Mirana lag mit klopfendem Herzen in ihre Decke gehüllt. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß die Götter selten die Gebete eines Sterblichen um gutes Gelingen eines gefahrvollen Unternehmens erhörten. Den Göttern war das ziemlich gleichgültig. Plötzlich stand Rorik über ihr, und sie war darüber nicht erstaunt. Er kam, um sie zu vergewaltigen oder zu töten. Sie hatte im stillen gehofft, seine Mutter würde ihn von ihr fernhalten. Tora glaubte, sie würde die Insel verlassen, sie vertraute ihr.
Hatte Merrik etwas zu Rorik über ihr Versprechen gesagt?
»Was willst du, Rorik?«
»Dich. Komm. Wir schlafen im Stall.«
Entti versteifte sich neben ihr, blieb aber liegen und stellte sich schlafend.
»Hafter kommt gleich, um sie zu holen. Ich dulde ihre weiblichen Listen nicht länger.«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Eine kraftvolle, wettergegerbte Hand.
»Ich möchte hierbleiben, Rorik. Ich will schlafen.«
»Ich frage nicht danach, was du willst. Komm.«
Mirana kam auf die Knie. Sie spürte ihr Messer im Gürtel. Sie würde tun, was sie tun mußte.
Er nahm ihre Hand und zog
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