Der Herr der Habichts - Insel
ihr. Wende deinen Blick nicht von mir, Ivar. Ich bin keine Jungfrau mehr. Ich bin verheiratet. Ich bin die Herrin der Habichtsinsel. Bei allen Göttern, wenn ich nicht Roriks Frau wäre, wie könnte ich dann frei herumspazieren? Warum sollte ich euch anlügen, euch, die ich mein Leben lang kenne?«
Gunleik sah sie sehr lange und forschend an. Sie las Zweifel und Unsicherheit in seinen Augen. Ihr war übel. Schließlich sagte er mit müder Stimme: »Ich denke darüber nach, Mirana. Einar hat nie ein Wort davon gesagt, daß der König dich zur Frau begehrt, und das ist eine Tatsache.«
»Weil er falsch ist, weil er grausam ist, und weil er kaltherzig ist. Es bereitet ihm Vergnügen, wenn seine Leute im Staub vor ihm kriechen.«
Da schlug ihr Edmund mitten ins Gesicht. Dann lächelte er sanft. »Ingolf sagte, du sollst schweigen. Jetzt wirst du gehorchen.«
Gunleik warf sich auf Edmund und würgte ihn solange, bis Ingolf Gunleik von hinten niederschlug, der daraufhin leblos zu Boden sank. Ivar griff nach dem Messer in seinem Gürtel. »Nein, Junge, laß dein Messer stecken. Ich habe deinem Idol nicht weh getan, obwohl der alte Narr das Boot mit seinem Angriff auf Edmund beinahe zum Kentern gebracht hätte. Mirana hat die Ohrfeige verdient. Sie hätte mehr verdient, doch da sie Einars Halbschwester ist, halte ich mich zurück. Einar würde sie solange auspeitschen, bis ihr das rohe Fleisch in Fetzen vom Rücken hängt. Setz dich ans Ruder, Junge. Wir haben eine lange Reise vor uns.«
Mirana schmiegte sich an Gunleik und legte ihre Hand auf sein Herz, das beruhigend stark und regelmäßig schlug. Im Einschlafen hörte sie Sira leise eine schmeichelnde, süße Weise singen. Dann hörte sie, wie Ingolf leise zu Sira sprach. Er sprach nicht wie ein Mann zu seiner Sklavin. Nein, seine Stimme war die eines Liebhabers.
Warum hatte Sira gelogen? Was erhoffte sie sich nur davon?
Roriks nagende Angst war wie weggeblasen, als Merrik sagte: »Wir finden sie nicht. Sie ist nicht mehr auf der Insel. Und Sira ist ebenfalls verschwunden. Es tut mir leid, Rorik.«
Es tat ihm leid? Bei allen Göttern, warum? Rorik hatte sie schon tot gesehen, zerfleischt von einem wilden Tier oder umgebracht von einem Mitglied seiner Familie. Er blickte seinem Bruder forschend in die Augen, der noch einmal sagte: »Es tut mir leid, Rorik. Ich weiß, daß dir an der Frau gelegen war. Aber sie ist verschwunden.«
Noch vor wenigen Augenblicken war Rorik so erschöpft gewesen, daß er sich am liebsten neben Kerzog auf den Lehmboden gelegt hätte. Doch diese wunderbare Nachricht weckte seine Lebensgeister und erfüllte ihn mit Energie. Er hätte seine Zuversicht gern laut hinausgeschrien, denn jetzt war er seiner Sache sicher.
Harald legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute in seine blauen Augen. »Es fehlt kein Boot, Rorik. Sie war sehr unglücklich, mein Sohn. Vielleicht ist sie von der Klippe gesprungen. Vielleicht hat Sira sie angegriffen und beide sind in den Tod gestürzt. So muß es gewesen sein. Beide wurden ins Meer gespült.«
Rorik lächelte, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und atmete die würzige Sommerluft tief ein. »Nein, Vater. So war es nicht. Ihr Halbbruder Einar hat herausgefunden, daß sie hier ist, und hat sie heimlich entführt. Vermutlich hat er auch Sira verschleppt. Es ist zu spät, um heute noch in See zu stechen. Wir treffen Vorbereitungen, um bei Morgengrauen aufzubrechen.«
Er rieb sich die Hände und ließ Vater und Bruder stehen, die ihm verblüfft nachschauten. Tief in seinem Herzen wußte er, daß er sie finden würde. Hoffentlich noch rechtzeitig. Er hätte allen Lebensmut verloren, wenn man sie tot aufgefunden hätte. Doch nun gaben die Götter ihm neue Hoffnung, und er würde sie finden. Er streckte die Hand aus, um Kerzog zu streicheln, doch der Hund war nicht da. Vermutlich war er zu Entti geschlüpft, der treulose Köter, dachte er lächelnd. Sie war am Leben, und solange sie am Leben war, gab es Hoffnung.
Roriks letzter Gedanke war, bevor er einschlief, daß er sie finden mußte, bevor Einar oder der König herausfand, daß sie keine Jungfrau, oder noch schlimmer, daß sie seine Gemahlin war.
Kapitel 25
Mirana sah ihren Bruder an. Er war betrunken, seine Kleider hatten Hecken und sein junges, schönes Gesicht war verzerrt. Gunleik war der erste, den er sah, und er brüllte ihn an: »Na, alter Mann? Hast du sie gefunden? Wo ist sie? Wenn du sie nicht zurückgebracht hast, zieh ich dir das
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