Der Herr der Lüfte
»begriff«, wie er sagte, daß der Imperialismus ein Übel war, das die Mehrheit der Weltbevölkerung ihrer Würde und des Rechtes beraubte, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Dies waren, wie er bereitwillig zugab, englische Begriffe, doch was er ablehnte, war die Tatsache, daß sie den Engländern allein vorbehalten bleiben sollten. »Der Eroberer behauptet stets, daß seine moralische Überlegenheit - und nicht seine wilde Habgier - ihn zum Sieger gemacht hat.« Nach seinem Abgang aus Oxford war er zur Armee gegangen und hatte mit gutem Erfolg gedient, so viel wie möglich über englische Militärangelegenheiten in Erfahrung gebracht und war dann zum Polizeidienst in die Kronkolonie Hongkong versetzt worden - denn er sprach natürlich fließend chinesisch und kantonesisch. Kurze Zeit später war er von der Polizei desertiert und hatte das gesamte Korps einheimischer Polizisten, zwei Dampfwagen und eine beachtliche Menge Waffen mitgenommen. Darauf war er nach Shantung zurückgekehrt, wo noch immer der alte Kriegsherr herrschte und…
»Dort tötete ich den Mörder meines Vaters und nahm seinen Platz ein«, erklärte er unverblümt. Seine Mutter war in der Zwischenzeit gestorben. Mit seinen Verbindungen zu Revolutionären auf der ganzen Welt hatte er den Plan für die Stadt des Sonnenaufgangs gefaßt. Er wollte all jene aus Europa abziehen, die dieser Erdteil in seinem Hochmut verwarf - seine brillanten Naturwissenschaftler, Ingenieure, Politiker und Schriftsteller, die zu klarsichtig waren, als daß sie von ihren eigenen Regierungen geduldet worden wären - und er setzte sie zum Nutzen Chinas ein.
»Dies ist ein Teil dessen, was Europa uns schuldet«, erklärte er. »Und bald werden wir in der Lage sein, den Rest der Schuld einzufordern. Wissen Sie, Mr. Bastable, wie sie den Untergang Chinas in die Wege leiteten? Es waren hauptsächlich die Engländer, aber auch die Amerikaner. Sie bauten in Indien Opium an - auf riesigen Feldern - und brachten es per Schiff heimlich nach China, wo es offiziell verboten war. Dies schuf eine derartige Inflation (denn jene, die es einführten, wurden in chinesischem Silber bezahlt), daß die ganze Wirtschaft zugrunde ging. Als die chinesische Regierung sich dagegen aussprach, schickten die Fremden ihre Armeen ins Land, um den Chinesen ›eine Lektion‹ zu erteilen, weil sie den Hochmut besessen hatten, sich zu beschweren. Diese Armeen fanden ein wirtschaftlich ruiniertes Land und weite Teile der Bevölkerung als Opiumraucher vor. Die Ursache hierfür konnte natürlich nur eine angeborene Dekadenz, eine moralische Unterlegenheit sein…« Shaw lachte. »Die Opiumschiffe waren eigens für den Handel mit China gebaut, daß sie mit ihren Ladungen schnell von Indien aus das Land erreichten, und häufig brachten sie neben dem Opium auch Bibeln für die Missionare mit, die darauf bestanden, daß sie, wenn sie schon, weil sie Pidginchinesisch sprachen, für die Opiumschmuggler als Dolmetscher dienen mußten, auch Bibeln verteilen wollten. Danach war eine Umkehr natürlich nicht mehr möglich. Und die Europäer halten den Haß der Chinesen für unvernünftig!«
In solchen Augenblicken pflegte Shaw sehr ernst zu werden und sagte zu mir: »Fremde Teufel? Glauben Sie, daß das Wort ›Teufel‹ stark genug ist, Mr. Bastable?«
Nun gingen seine Ambitionen dahin, ganz China zurückzuerobern:
»Und bald werden die großen, grauen Fabriken von Shanghai unser sein. Die Laboratorien, Schulen und Museen Pekings werden uns gehören. Die Handels- und Produktionszentren Kantons werden unser sein. Die fruchtbaren Reisfelder - all dies wird wieder in unserem Besitz sein!« Seine Augen strahlten.
»China wird vereinigt sein. Die Fremden werden aus dem Land vertrieben, und alle Bürger gleich sein. Wir werden der Welt ein Beispiel geben.«
»Wenn Sie Erfolg haben«, sagte ich leise, »so zeigen Sie der Welt auch Ihre Menschlichkeit. Freundlichkeit macht auf die Menschen ebensolchen Eindruck wie Fabriken und militärische Stärke.«
Shaw warf mir einen eigentümlichen Blick zu.
Nun lagen etwa fünfzehn Luftschiffe an den Anlegemasten des Aeroparks hinter der Stadt und fast hundert Fei-chi in den Hangars. Das ganze Tal war mit Artillerie und Infanterie gesichert und könnte einem Angriff von allen Seiten standhalten; und wir wußten, daß dieser Angriff kommen mußte.
Wir? Ich weiß nicht, wie ich dazu gekommen war, mich mit Banditen und Revolutionären zu identifizieren - und doch gab es nichts
Weitere Kostenlose Bücher