Der Herr der Ohrringe (German Edition)
neues Segenszeitalter angebrochen war.
Zweites Kapitel:
Das Tor von Vidas Tierlyth öffnet sich
Eines Tages jedoch begab es sich, dass ein von Winden gebeutelter, von Ungemach zerrütteter, in Lumpen taumelnder, jämmerlich aussehender und durchfrorener Wanderer an die Großen Tore von Vidas Tierlyth pochte. Und zwar von außen. Die Neun Ohrringgespenster öffneten die Pforten und hängten dem Verirrten Myriaden von Blumen um die Schultern: bleiche, krank aussehende Blümchen aus dem Moduul-Tal waren diese, und sie gaben einen betäubenden Gestank von sich, den die Nazgulashs duftig fanden. Der Zerlumpte aber war ein Sendbote aus einer Anderen Welt, in der furchtbare Schrecknisse herrschten, wie er zum Entsetzen der tanzenden Gondeler herausstammelte; und er bat, vor den König geführt zu werden.
»Der König!«, rief Ganzhalb und patschte sich gegen die Stirn, und dann starrte er Marathorn an. »Wär’ das nicht die richtige Rolle für dich gewesen, mein Einfaltspinsel? Damit hätten wir Awon mit Sicherheit dir geneigt gemacht! Denn der Glanz erfolgreicher Männer«, so fügte er hinzu, als er Marathorns beklagenswertes Gesicht sah, »macht selbst die Stolzesten des Schönen Geschlechts wankelmütig!«
»Ist das wahr?«, murmelte Marathorn mit blasser Stimme.
»Aber ja doch«, rief der Weiße Zauberer, »vor allem, wenn man die Mädels obendrein ein bisschen verächtlich behandelt!«
Marathorns Welt geriet ins Wanken; doch unbekümmert fuhr Ganzhalb fort: »Die Königswürde für den Dauerläufer! Mayene Vraessae, natürlich! Und die Weisen der Vergangenheit prophezeiten es sogar! Nur ist es uns nicht eingefallen. Marathorn, das ist ja vielleicht bedauerlich! Und es ist auch verrückt, dass wir es vergaßen, ist es nicht verrückt?«
Und dann wandte er sich endlich dem klaglos wartenden Sendboten zu und sprach: »Frohdoof der Döskopp, im Triumvirat mit den Zwei Blauen, herrscht hier über uns, die wir im unabänderlichen Glückstaumel schlottern. Und alle sind immer frohgemut, nur mein armer Freund Marathorn hier nicht, denn seine Verlobte turtelt ununterbrochen mit jemandem, der uns schon früher geärgert hat!«
»Wie überaus traurig. Jedoch bei uns, in unserer Welt, da sieht’s noch viel schlimmer aus!«, antwortete der Bote mit einer Beherztheit, die später, als die Erzählungen zu Ende erzählt waren, noch oftmals mit Kopfschütteln und Respekt diskutiert wurde. »Ja«, fuhr er fort. Und wurde daraufhin ohnmächtig und sank vornüber in Ganzhalbs Arme.
»Was machen wir nur mit ihm?«, fragte der Zauberer, während er die Schulter des Bewusstlosen tätschelte.
»Sollten wir ihm nicht Ruhe gönnen?«, schlug Marathorn voller Mitgefühl vor. »Ihn am besten hier liegen lassen?«
Niemanden gelüstete es nach schlechten Neuigkeiten, deren Überbringer dieser Sendbote zu sein angedeutet zu haben schien, und fast alle am Tor Versammelten bejubelten den Dauerläufer. Und manche gratulierten ihm zu seinem ersten vernünftigen Ratschlag seit seiner Großtat in Duchfal einige Monate zuvor, davon sie alle staunend vernommen hatten: wie er den Anstoß zu einem inspirierenden Trinkgelage gab.
Awon jedoch, deren graziöses Herannahen von niemandem bemerkt worden war, erbarmte sich, kniete nieder in den Staub, der der Staub von Diamanten war, verband des zersausten Wanderers Wunden mit all ihren Gewändern und küsste seine Stirn und Lenden, bevor sie ihn forttrug. Da blickten Saurum und Marathorn einander verdattert an, bevor Saurum fragte: »Hast du noch ein paar von diesen Schwertern übrig, die du dauernd zerknickst?«
»Har! Jetzt fühlst du es, davon die Weisen künden, dass ich es fühle!«, rief Marathorn. »Und das hast du nun davon!«
»Ist es die Schwarze Eifersucht?«, fragte Saurum. »Jene, die keinen Platz für Hoffnung lässt?«
Ganzhalb grinste nur böse, und Marathorn sprach: »Von mir kriegst du kein Schwert. Nun verzweifele und sei ein elenvahr! Oder meinetwegen – stürz in den Schatten.«
Drittes Kapitel:
Die Treppen von Vidas Tierlyth. Und eine halbwegs entlarvte Verschwörung
In der Zwischenzeit hatte Awon den erschöpften Wanderer die ungezählten, weswegen niemand wusste, wie viele es waren, Stufen zur Feste hinaufgetragen, um ihn zum Thronsaal zu bringen, wo Frohdoof gerade mit den Zwei Blauen Zauberern eine geheime Besprechung abhielt. Er hatte die beiden gebeten, ihm Ratschläge zur Installation einer bösen Regentschaft angedeihen zu lassen; denn das Zeitalter der
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