Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
Entscheidung bewusst. Er merkte nur, dass er die Kette hervorzog und den Ring in die Hand nahm. Die Spitze des Orktrupps tauchte in der Spalte unmittelbar vor ihm auf. Da streifte er den Ring auf den Finger.
Die Welt wurde anders, und jede Sekunde enthielt eine Stunde an Gedanken. Sogleich bemerkte er, dass sein Gehör geschärft, das Augenlicht aber getrübt war, doch anders als in Kankras Höhle. Alle Dinge um ihn waren nun nicht dunkel, sondern verschwommen, während er selbst wie ein kleiner schwarzer Felsblock allein in dieser grauen, nebelhaften Welt stand und der Ring wie ein Kreis von heißem Gold schwer an seiner linken Hand hing. Er kam sich ganz und gar nicht unsichtbar vor, sondern im Gegenteil entsetzlich auffällig und preisgegeben; und er wusste, dass irgendwo ein Auge war, das nach ihm suchte.
Von weit unten im Morgultal hörte er das Knacken von Gestein und Gemurmel von Bächen, von hinten unter dem Felsen, wo sie in einem finsteren Gang herumirrte, Kankras brodelndes Gejammer; er hörte Stimmen aus den Verliesen des Turms und die Rufe derOrks, die aus dem Stollen kamen; und das Getrampel und Getöse der Orks dicht vor ihm dröhnte ihm betäubend in den Ohren. Er drückte sich an die Felswand. Sie marschierten heran wie ein geisterhafter Trupp, graue, undeutliche Gestalten im Nebel, Angsttraumerscheinungen mit fahlen Flammen in den Händen. Und sie gingen an ihm vorüber. Er duckte sich tief, suchte nach irgendeinem Winkel als Versteck.
Er horchte auf. Die Orks aus dem Stollen und die anderen, die zu ihnen hinabmarschierten, hatten sich gesichtet, und beide Trupps eilten einander nun brüllend entgegen. Er konnte beide deutlich hören und verstand, was sie sagten. Vielleicht verlieh der Ring Sprachkenntnisse oder ließ ihn wortlos verstehen, besonders was die Diener Saurons, seines Schöpfers, sagten; jedenfalls konnte Sam, wenn er achtgab, den Sinn erfassen oder für sich übersetzen. Ja, der Ring hatte erheblich an Kraft gewonnen, seit er den Orten, wo er einst geschmiedet worden war, nahe kam; doch eines konnte er seinem Träger nicht verleihen, nämlich Mut. Für den Augenblick dachte Sam noch an gar nichts anderes als daran, sich versteckt zu halten, bis alles wieder ruhig wäre, und er lauschte voller Angst. Er wusste nicht, aus welcher Entfernung er die Stimmen hörte, aber die Worte klangen fast so, als würden sie ihm ins Ohr gebrüllt.
»Holla, Gorbag! Was willst du hier oben? Nase bereits voll vom Krieg, was?«
»Befehl, du Trottel. Und was treibst du, Schagrat? Hast du’s nicht bald satt, hier oben zu gammeln? Wie wär’s, wenn du mal runterkommst ins Gefecht?«
»Selber Befehl. Ich hab das Kommando auf dem Pass. Weißt wohl nicht, mit wem du redest! Was gibt’s zu melden?«
»Nichts.«
»Hoi! Hoi! Joi!« Lautes Geschrei unterbrach den Wortwechsel der beiden Truppführer. Die Orks weiter unten hatten etwas entdeckt. Sie begannen zu rennen, die anderen auch.
»Hoi! Holla! Hier ist was. Liegt mitten auf dem Weg. Ein Spion, ein Spion!« Hörner tuteten knurrend, vielerlei Stimmen bellten durcheinander.
Wie mit einem Keulenschlag wurde Sam aus seiner ängstlichen Verkrochenheit gescheucht. Sie hatten Frodo gesehen. Was würden sie tun? Über die Orks hatte er Geschichten gehört, bei denen es ihm kalt über den Rücken lief. Es durfte nicht sein. Er sprang auf. Das Ziel seiner Fahrt und all seine Entschlüsse warf er beiseite, und mit ihnen zugleich die Furcht und die Zweifel. Er wusste nun, wo sein Platz war, jetzt wie zuvor: an der Seite seines Masters, obwohl ihm nicht klar war, was er dort tun könnte. Er rannte die Treppe hinunter, den Pfad entlang, zurück zu Frodo.
»Wie viele es wohl sind?«, dachte er. »Mindestens dreißig bis vierzig vom Turm und etliche mehr von unten, schätz ich. Wie viele werd ich totschlagen können, ehe sie mich kriegen? Sie werden das Schwert glühen sehn, sobald ich es ziehe, und früher oder später erwischen sie mich. Ob wohl jemals in einem Lied davon die Rede sein wird? Wie Samweis auf dem hohen Pass fiel, nachdem er einen Wall von Leichen um seinen Master aufgetürmt hatte. Nein, niemand wird es besingen. Natürlich nicht, denn die werden den Ring finden, und aus ist es mit den Liedern. Ich kann’s nicht ändern. Mein Platz ist bei Herrn Frodo. Das müssen sie einsehen – Elrond und der Rat und die hohen Frauen und Herren mit all ihrer Weisheit. Ihre Pläne sind fehlgeschlagen. Ich kann nicht für sie den Ring tragen. Nicht ohne Herrn
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