Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
sagte Théoden, »ist alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung«, antwortete sie, doch Merry schien es, dass ihre Stimme sie Lügen strafte, und er hätte gedacht, dass sie geweint hatte, wenn dies bei einer Dame von so strenger Miene glaubhaft gewesen wäre. »Alles in Ordnung. Es fiel den Leuten schwer, sich so plötzlich von ihren Häusern loszureißen. Harte Worte sind gefallen, denn lange ist’s her, seit zum letzten Mal ein Krieg uns von den grünen Feldern vertrieben hat; aber bis zu schlimmen Taten ist es nicht gekommen. Alles ist nun geregelt, wie Ihr seht. Und Eure Unterkunft ist vorbereitet, denn ich habe ausführliche Nachricht über Euch erhalten, und die Stunde Eurer Ankunft war mir bekannt.«
»Also ist Aragorn gekommen«, sagte Éomer. »Ist er noch hier?«
»Nein, fort ist er«, sagte Éowyn, wandte sich ab und sah zu den dunkel im Osten und Süden aufragenden Bergen hin.
»Wohin ist er gegangen?«, fragte Éomer.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Er kam bei Nacht und ritt gestern Morgen davon, ehe die Sonne über den Berggipfeln stand. Fort ist er.«
»Es bekümmert dich, Tochter«, sagte Théoden. »Was ist geschehen? Sag mir, hat er von jener Straße gesprochen?« Er deutete die Steinreihen entlang zum Dwimorberg hin, wo sie ins Dunkel tauchten. »Von den Pfaden der Toten?«
»Ja, Gebieter«, sagte sie. »Und er ist in die Schatten getreten, aus denen noch niemand wiedergekehrt ist. Ich konnte ihn nicht davon abbringen. Fort ist er.«
»Dann haben unsere Wege sich getrennt«, sagte Éomer. »Er ist verloren. Wir müssen ohne ihn reiten, und unsere Hoffnung schwindet.«
Langsam ritten sie übers kurze Gras und Kraut der Bergwiese, ohne mehr zu reden, bis sie zum Zelt des Königs kamen. Dort fand Merry alles für sie vorbereitet, und auch ihn selbst hatte man nicht vergesvsen. Neben dem großen Zelt des Königs war ein kleines für ihn aufgestellt worden, und dort saß er allein, während beim König die Männer kamen und gingen, die etwas mit ihm zu besprechen hatten. Es war nun Nacht, und die nur noch halb sichtbaren Berggipfel im Westen waren mit Sternen bekrönt, im Osten aber war der Himmel leer und dunkel. Die Steinreihen schwanden allmählich aus der Sicht, doch hinter ihnen, dunkler als die Nacht, brütete der breite, geduckte Schatten des Dwimorbergs.
»Die Pfade der Toten«, murmelte er in sich hinein. »Die Pfade der Toten, was das bloß zu bedeuten hat? Alle haben sie mich jetzt allein gelassen, alle gehn sie jetzt irgendeinem Schicksal entgegen: Gandalf und Pippin nach Osten in den Krieg, Sam und Frodo nach Mordor, Streicher, Legolas und Gimli auf den Pfaden der Toten. Aber sicherlich komm ich auch bald an die Reihe. Ich möchte nur mal wissen, was die alle zu bereden haben und was der König zu tun gedenkt. Denn wo er jetzt hingeht, da muss ich auch hin.«
Unter diesen düsteren Gedanken fiel ihm plötzlich ein, dass er einen Bärenhunger hatte, und er stand auf und wollte sich umsehen, ob es noch irgendwem in diesem sonderbaren Lager ebenso ging. Aber im gleichen Moment hörte er einen Trompetenton, und ein Mann kam und rief ihn zur Tafel des Königs, wo er als Knappe seinem Herrn aufwarten sollte.
Im Innern des Zelts war ein kleiner Raum mit bestickten Vorhängen abgeteilt und mit Fellen ausgelegt; und dort saß Théoden mit Éomer, Éowyn und Dúnhere, dem Fürsten des Hargtals, an einem kleinen Tisch. Merry stand neben dem Hocker des Königs und wartete ihm auf, bis sich der alte Mann, aus tiefem Nachsinnen zurückfindend, lächelnd zu ihm hinwandte.
»Komm, Herr Meriadoc«, sagte er, »du musst nicht stehen! Solang ich noch im eigenen Lande bin, sollst du an meiner Seite sitzen und mir das Herz mit deinen Geschichten erleichtern.«
Zur Linken des Königs wurde dem Hobbit Platz gemacht, aber niemand fragte nach einer Geschichte. Überhaupt wurde wenig gevredet, und sie aßen und tranken die meiste Zeit schweigend, bis Merry schließlich seinen Mut zusammennahm und die Frage stellte, die ihn quälte.
»Zweimal schon, Gebieter, habe ich von den Pfaden der Toten gehört«, sagte er. »Was sind das für Pfade? Und wo ist Streicher, der Herr Aragorn, mein ich, wo ist er hingegangen?«
Der König seufzte, aber niemand antwortete, bis endlich Éomer das Wort ergriff. »Wir wissen es nicht, und das Herz ist uns schwer«, sagte er. »Doch was die Pfade der Toten angeht, so hast du selbst schon die ersten Schritte auf ihnen getan. Nein, ich will keine Unheilsworte
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