Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
Lass die Toten in Ruhe!«
Eine eisige Stimme antwortete: »Tritt niemals zwischen den Nazgûl und sein Opfer! Oder er wird dich nicht töten! Davon trägt er dich in die Häuser des Jammers hinterm ewigen Dunkel, wo dein Fleisch verzehrt wird und dein verrunzelter Geist nackt dem lidlosen Auge preisgegeben.«
Ein Schwert fuhr klirrend aus der Scheide. »Tu, was du willst; und ich tu, was ich kann, um dich zu hindern!«
»Mich hindern? Du Narr! Kein Mann, der lebt, kann mich hindern.«
Dann hörte Merry von all den merkwürdigen Dingen, die er in dieser Stunde schon gehört hatte, das merkwürdigste. Dernhelm schien zu lachen. Seine helle Stimme klang glockenrein wie von Stahl. »Ein Mann, der lebt, vielleicht nicht, aber ich bin keiner. Du hast es mit einer Frau zu tun. Éowyn bin ich, Éomunds Tochter. Du stehst zwischen mir und meinem Oheim und König. Verschwinde, wenn du nicht unsterblich bist! Denn ob lebend oder untot, diese Klinge wirst du spüren, wenn du ihn anrührst.«
Das Flügeltier fauchte sie an, aber der Ringgeist gab keine Antwort. Er blieb stumm, als wäre ihm plötzlich ein Bedenken gekommen. Merry aber war so verblüfft, dass er für einen Moment sogar seine Angst vergaß. Er schlug die Augen auf, und gleich sah alles nicht mehr ganz so schwarz aus. Wenige Schritte von ihm hockte das große Biest, und um es herum schien alles dunkel zu sein, und auf ihm thronte der Nazgûl-Fürst, ein Schatten, der verzweifeln machte. Etwas links von ihnen stand sie, die er bisher Dernhelm genannt hatte. Doch den Helm, der sie getarnt hatte, musste sie verloren haben, und das nun freie Haar fiel ihr blassgolden schimmernd auf die Schultern herab. Ihre Augen, grau wie das Meer, blickten hart und todesmutig drein, aber über die Wangen flossen noch Tränen. Das Schwert hielt sie in der Hand, und mit dem erhobenen Schild wehrte sie den lähmenden Blick des Feindes ab.
Éowyn, ja, sie war es – aber auch Dernhelm. Denn Merry fiel das Gesicht ein, das er gesehen hatte, als sie von Dunharg aufbrachen: das Gesicht eines Menschen, der den Tod sucht, weil er keine Hoffnung im Leben sieht. Mitleid brachte sein gutes Herz in Bewegung und tiefes Erstaunen, und plötzlich erwachte in ihm der schwer entflammbare Mut seines Volkes. Er ballte die Faust. So schön und so verzweifelt – sie durfte nicht sterben! Oder wenigstens nicht sie allein und nicht ohne Beistand.
Der Feind blickte nicht zu ihm her, aber noch immer wagte er sich kaum zu rühren, um die mörderischen Augen nicht auf sich zu ziehen. Zoll für Zoll kroch er beiseite; aber der Schwarze Feldherr, in bösen Gedanken und Zweifeln ganz mit der Frau, die vor ihm stand, beschäftigt, beachtete ihn so wenig wie einen Wurm im Schlamm.
Plötzlich schlug das große Biest mit seinen widerlichen Flügeln und verursachte einen übelriechenden Windstoß. Es erhob sich in die Lüfte und stürzte sich dann kreischend, Klauen und Schnabel vorgestreckt, auf Éowyn herab.
Keinen Fußbreit wich sie, die Jungfrau von Rohan, Tochter von Königen, schlank und schön wie eine Stahlklinge und ebenso gefährlich. Einen raschen Hieb führte sie, treffsicher und tödlich. Den langen Hals trennte sie durch, und der abgehauene Kopf fiel wie ein Stein zu Boden. Nun sprang sie zurück, als der gewaltige Rumpf herabsank und die ausgebreiteten Schwingen noch am Boden zappelten; aber mit dem Sturz der Bestie verschwand der Schatten. Licht fiel auf Éowyn, und ihr Haar leuchtete in der aufgehenden Sonne.
Auf rappelte sich der Schwarze Reiter und stand vor ihr, baumlang und drohend. Mit einem Hass-Schrei, der wie Gift die Ohren ätzte, ließ er die Keule niedersausen. Ihr Schild zersprang in viele Splitter, ihr Arm war gebrochen, sie stolperte und sank in die Knie. Wie eine Wolke beugte er sich über sie, mit blitzenden Augen, und er hob die Keule zum tödlichen Hieb.
Aber plötzlich stolperte auch er, schrie jämmerlich auf vor Schmerz und schlug ein Loch in den Boden. Merrys Schwert war ihm von hinten aufwärts durch den schwarzen Mantel und unter dem Panzer in sein gewaltiges Knie gefahren und hatte die Sehne durchstoßen.
»Éowyn! Éowyn!«, schrie Merry. Taumelnd kam sie auf die Beine, und als sich die breiten schwarzen Schultern über sie beugten, stieß sie mit letzter Kraft ihr Schwert zwischen Krone und Mantelkragen. Funkenstiebend zerbarst das Schwert in hundert Splitter. Die Krone rollte hohl scheppernd über den Boden. Éowyn fiel vornüber auf ihren gefallenen Feind. Doch
Weitere Kostenlose Bücher