Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
anderen und nach oben hin sich verjüngend, mit Wänden von fugenlos glattem Mauerwerk nach Nord- und Südosten. Die unterste Stufe, zweihundert Fuß tiefer als Sams Aussichtspunkt, war von einer Mauer umgeben, die noch einen schmalen Innenhof freiließ. Das Tor, in der ihm zugewandten Südostseite der Mauer, führte auf eine breite Straße hinaus, die sich, mit einem Geländer an der Außenseite, am Rand eines Abgrunds hinzog, bis sie nach Süden bog und sich im Dunkeln bergab schlängelte, um in die Straße, die vom Morgulpass kam, zu münden. Auf dieser ging es durch einen gezackten Spalt im Morgai ins Tal der Gorgoroth hinaus und weiter zum Barad-dûr. Der schmale obere Weg, auf dem Sam stand, führte über Treppen und steiles Gefälle rasch hinunter und mündete am Fuß der finsteren Mauern nah am Tor in die Straße ein.
Fast erschrocken begriff Sam, als er dies alles überblickte, dass die Festung nicht dazu erbaut war, Mordors Feinden den Zugang, sondern seinen Bewohnern die Flucht zu verwehren. Tatsächlich war sie ein Werk der Herren von Gondor, ein östlicher Vorposten zum Schutze Ithiliens, einst angelegt, als die Menschen von Westernis nach dem Letzten Bündnis Saurons wüstes Land überwachten, in dem sich noch viele seiner Kreaturen verkrochen hatten. Aberebenso wie bei Narchost und Carchost, den Zahntürmen, hatte auch hier die Wachsamkeit nachgelassen, Verrat hatte den Turm dem Fürsten der Ringgeister ausgeliefert, und seit vielen Jahren schon befand er sich nun in der Gewalt übler Kreaturen. Seit seiner Rückkehr nach Mordor fand Sauron ihn nützlich; denn treue Diener hatte er nur wenige, dafür aber viele Sklaven, die ihm aus Furcht gehorchten; und diese an der Flucht zu hindern, war noch immer der Hauptzweck des Turms. Sollte allerdings ein Feind tolldreist auf diesem Wege heimlich ins Land einzudringen versuchen, so konnte der Turm als letzter, schlafloser Wachtposten dienen, der jeden abfinge, der etwa der Wachsamkeit Minas Morguls oder Kankras entgangen wäre.
Nur allzu deutlich erkannte Sam, wie aussichtslos es wäre, vor diesen vieläugigen Mauern hinunterzuschleichen und durchs bewachte Tor zu gehen. Und auch wenn ihm das gelänge, käme er nicht weit auf der Straße, denn auch sie wurde sicherlich bewacht; selbst die Schatten an den tieferen Stellen, wo der rote Glutschein nicht hindrang, könnten ihn vor den nachtsichtigen Orks nicht lange verbergen. Aber so schlimm diese Straße auch sein mochte, was er jetzt zu tun hatte, war weit schlimmer: nicht dieses Tor zu umgehen und zu entkommen, sondern hineinzugehen, ganz allein.
Nun dachte er an den Ring, aber auch das war alles andere als beruhigend. Kaum hatte er von fern den Schicksalsberg glühen gesehen, da bemerkte er eine Veränderung seiner Last. Als der Ring sich den großen Werkstätten näherte, wo er in den Tiefen der Zeit einst gegossen und geschmiedet worden war, da wuchs seine Macht, und er wurde bösartiger, unbezähmbar, es sei denn durch einen gewaltigen Willen. Obwohl Sam ihn jetzt nicht am Finger, sondern an der Kette um den Hals trug, kam er sich vergrößert vor, eingehüllt in einen riesenhaft entstellten Schatten seiner selbst, eine dunkle, drohende Gefahr vor den Wällen von Mordor. Ihm schien es, als habe er nur noch zwei Möglichkeiten: auf den Ring zu verzichten, so schwer ihm das fiele; oder ihn für sich zu behalten und der Macht,die dort im Dunklen Turm hinter dem Tal der Schatten saß, entgegenzutreten. Schon verlockte ihn der Ring, er nagte an seinem Willen und Verstand. Kühne Phantasien stiegen in ihm auf: Samweis der Starke, Held seines Zeitalters, wie er mit Feuer und Schwert durch die dunklen Lande zog, der Heerführer, der Barad-dûr dem Erdboden gleichmachte. Und dann verzöge sich alles Gewölk, und die helle Sonne schiene, und auf seinen Befehl würde aus dem Tal der Gorgoroth ein Garten voller Blumen und Bäume und Kartoffeläcker. Er brauchte nur den Ring aufzustecken und ihn zu seinem Eigentum zu erklären, und all dies könnte geschehen.
In dieser Stunde der Versuchung war es vor allem die Treue zu seinem Master, die ihn standhalten ließ; aber auch sein solider Hobbitverstand war noch nicht ganz bezwungen: im Grunde seines Herzens wusste er, dass er nicht das Zeug dazu hatte, eine solche Last zu schultern, auch wenn ihm diese Bilder nicht nur vorgegaukelt gewesen wären, um ihn zu übertölpeln. Das kleine Stück Garten für einen freien Gärtner war alles, was er brauchte und was ihm
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