Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
wechseln tatsächlich die Plätze. Dort vor uns liegt die Brandlichtung (hoffe ich jedenfalls), aber der Weg dorthin hat sich offenbar verschoben.«
Es wurde heller, als sie weitergingen. Plötzlich kamen sie aus den Bäumen heraus und auf eine große, kreisrunde Lichtung. Der Himmel war blau und heiter, sehr zu ihrer Überraschung, denn unter dem Waldesdach hatten sie nicht sehen können, wie der anbrechende Tag die Nebel zerstreute. Noch stand die Sonne nicht hoch genug, um in die Lichtung hineinzuscheinen; sie streifte nur erst die Baumwipfel. Das dichtere und grünere Laub an den Rändern umschloss die Lichtung wie eine Mauer. Kein Baum wuchs hier, nur struppiges Gras und allerlei schnell aufschießende Pflanzen: hochstängeliger, verblühter Schierling, Eberwurz und wilde Petersilie, deren Samen zu flaumiger Asche zerfielen, wuchernde Nesseln und Disteln. Ein trübseliger Ort, doch nach dem dichten Wald kam er ihnen wie ein freundlicher Garten vor.
Sie fassten neuen Mut und schauten zuversichtlich zum heller werdenden Himmel auf. Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung war eine Lücke in der Baumwand, und ein deutlich erkennbarer Weg führte hinein. Sie konnten sehen, dass er an manchen Stellen so breit wurde, dass er den Blick zum Himmel freigab,während anderswo die Bäume dicht herantraten und ihn mit ihrem dunklen Gezweig überschatteten. Diesen Weg nahmen sie. Es ging immer noch sachte bergauf, aber sie kamen nun viel schneller vorwärts und waren besserer Laune, denn es schien, dass der Wald sich schließlich beruhigt hatte und sie ungehindert durchlassen würde.
Aber nach einer Weile wurde es heiß und stickig. Zu beiden Seiten rückten die Bäume wieder näher heran, und die Hobbits konnten nicht mehr weit
vorausblicken. Stärker als zuvor spürten sie nun das drückende Übelwollen des Waldes. So still war es, dass ihnen die Huftritte der Ponys, ihr Rascheln im
trockenen Laub oder manchmal das Stolpern an einer versteckten Wurzel laut im Ohr dröhnten. Frodo versuchte zu ihrer Aufmunterung ein Lied zu singen, aber
bald schlaffte seine Stimme zu einem leisen Gemurmel ab.
O Wanderer im Schattenland,
Verliert den Mut nicht vor der Wand
Des Waldes schwarz von Ost nach West,
Denn bald bricht Sonne durchs Geäst,
Die Sonne, wie sie kommt und geht,
Des Morgens früh, des Abends spät,
Und jeder Wald kommt an sein End …
End – bei diesem Wort versagte ihm die Stimme. Die dicke Luft schien die Worte nicht aufnehmen zu wollen. Dicht hinter ihnen stürzte ein großer Ast von einem alten, überhängenden Baum krachend auf den Pfad. Vor ihnen schienen sich die Bäume zusammenzudrängen.
»Das vom Durchbrechen durchs Geäst und vom Ende hören sie gar nicht gern«, sagte Merry. »Ich würde einstweilen lieber nicht mehr singen. Warte, bis wir am Waldrand sind, dann drehen wir uns um und bringen ihnen ein Ständchen.«
Es hörte sich gut gelaunt an, wie er das sagte, und sofern auch er Angst hatte, ließ er sie sich nicht anmerken. Die anderen gaben keine Antwort. Sie waren niedergeschlagen. Frodo lag eine Last wieBlei auf dem Herzen, und mit jedem Schritt vorwärts bedauerte er mehr, dass er gewagt hatte, die drohenden Bäume auch noch herauszufordern. Er wollte schon anhalten und die Umkehr vorschlagen (wenn sie überhaupt noch möglich wäre), als die Dinge eine neue Wendung nahmen. Der Weg stieg nicht mehr an und führte eine Weile durch nahezu ebenes Gelände. Die dunklen Bäume wichen beiseite, und eine fast gerade Wegstrecke lag vor ihnen. In einiger Entfernung sahen sie einen grünen Hügel, dessen baumlose Kuppe wie ein Kahlkopf aus dem Wald aufragte. Der Weg schien direkt dorthin zu führen.
Vor Freude bei dem Gedanken, für eine Weile über das Waldesdach hinauszukommen, trieben sie die Ponys zur Eile an. Der Weg führte erst ein Stück bergab, dann wieder bergauf bis an den Fuß des steilen Hügels. Dort trat er aus den Bäumen heraus und verlor sich im Gras. Rings um den Hügel stand der Wald wie ein Kranz von dichtem Haar um einen ausrasierten Schädel.
Die Hobbits führten ihre Ponys in großen Schleifen um den Hügel bis auf den Gipfel. Dort blieben sie stehen und schauten umher. Es war hell und sonnig, aber ein Dunst lag in der Luft, und sie konnten nicht sehr weit sehen. In ihrer Nähe war der Nebel nun fast verschwunden, doch da und dort lag er noch in den Mulden, und südlich von ihnen stieg er wie in weißen Rauchfähnchen aus einer tiefen Bodenfalte auf, die sich
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