Der Herr der Ringe
fällst! Jetzt weiß ich, was du im Sinn hast. Du willst Sauron den Ring bringen und uns alle verraten. Du hast nur auf eine Gelegenheit gewartet, um uns im Stich zu lassen. Tod und Verderben über dich und alle Halblinge!« Dann fiel er, weil er mit dem Fuß an einem Stein hängengeblieben war, längelang hin und blieb auf dem Gesicht liegen. Eine Weile lag er so still, als ob sein eigener Fluch ihn niedergestreckt habe; dann plötzlich weinte er.
Er stand auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und wischte sich die Tränen ab. »Was habe ich gesagt?«, rief er. »Was habe ich getan? Frodo! Frodo! Komm zurück! Mich überkam der Wahnsinn, aber jetzt ist es vorbei. Komm zurück!«
Es kam keine Antwort. Frodo hörte sein Rufen nicht einmal. Er war schon weit fort und eilte blindlings den Pfad zum Berggipfel hinauf. Er bebte vor Schreck und Kummer und sah in Gedanken immer noch Boromirs wahnsinniges, verbissenes Gesicht mit den brennenden Augen.
Bald kam er zum Gipfel von Amon Hen und blieb stehen, um Luft zu holen. Er sah wie durch einen Nebel einen großen, flachen Kreis, mit mächtigen Steinen gepflastert und umgeben von einer verfallenden Festungsmauer; und in der Mitte stand auf vier Säulen aus Stein ein Hochsitz, der über eine vielstufige Treppe erreicht wurde. Frodo stieg die Treppe hinauf, setzte sich auf den alten Sitz und kam sich vor wie ein verirrtes Kind, das auf den Thron von Bergkönigen geklettert war.
Zuerst konnte er wenig sehen. Er schien in einer Nebelwelt zu sein, in der es nur Schatten gab: Er hatte den Ring am Finger. Dann wich der Nebel hier und dort zurück, und er sah viele Bilder: klein und klar, als lägen sie vor seinen Augen auf einem Tisch, und doch fern. Zu hören war nichts; es waren einfach lebende Bilder. Die Welt schien zusammengeschrumpft und still geworden zu sein. Er saß auf dem Sitz des Sehens auf Amon Hen, dem Berg des Auges der Menschen von Númenor. Im Osten erblickte er weite, auf keiner Karte verzeichnete Lande, namenlose Ebenen und unerforschte Wälder. Er blickte nach Norden, und der Große Strom lag wie ein Band unter ihm, und das Nebelgebirge sah klein und hart aus wie abgebrochene Zähne. Er blickte nach Westen und sah die ausgedehnten Weiden von Rohan; und Orthanc, die Zinne von Isengart, wie einen schwarzen Dorn. Er blickte nach Süden, und gerade zu seinen Füßen rollte sich der Große Strom zusammen wie eine überkippende Welle und stürzte über die Fälle von Rauros in einen schäumenden Abgrund; ein schimmernder Regenbogen stand über der Gischt. Und er sah Ethir Anduin, das mächtige Delta des Stroms, und Myriaden von Seevögeln, die wie weißer Staub in der Sonne wirbelten, und unter ihnen ein grünes und silbernes Meer, in endlosen Linien wogend.
Aber wohin er auch schaute, überall sah er Anzeichen des Krieges. Das Nebelgebirge wimmelte wie ein Ameisenhaufen: Aus tausend Höhlen strömten Orks heraus. Unter den Zweigen von Düsterwald war ein tödlicher Kampf zwischen Elben und Menschen und wilden Tieren entbrannt. Das Land der Beorninger stand in Flammen; eine Wolke hing über Moria; an den Grenzen von Lórien stieg Rauch auf.
Reiter galoppierten über das Gras von Rohan; Wölfe ergossen sich aus Isengart. Von den Anfurten in Harad stachen Kriegsschiffe in See; und aus dem Osten zogen endlos Menschen heran: Schwertträger, Lanzenträger, Bogenschützen zu Pferde, Streitwagen von Anführern und beladene Karren. Die ganze Streitmacht des Dunklen Herrschers war in Bewegung. Dann wandte sich Frodo wieder nach Süden und erblickte Minas Tirith. Weit entfernt schien es zu sein, und schön: mit weißen Mauern, vielen Türmen, stolz und hehr; die Zinnen glitzerten von Stahl, und auf den Türmen flatterten viele Banner. Hoffnung erfüllte sein Herz. Aber gegenüber von Minas Tirith war noch eine Festung, eine größere und stärkere. Dorthin, nach Osten, wurde sein Auge wider Willen gezogen. Sein Blick schweifte über die zerstörte Brücke von Osgiliath, über die grinsenden Tore von Minas Morgul und das Geistergebirge, und er schaute auf Gorgoroth, das Tal des Schreckens im Lande Mordor. Dunkelheit lag dort unter der Sonne. Feuer glühte inmitten des Rauchs. Der Schicksalsberg stand in Flammen, und dichter Qualm stieg auf. Und dann blieb sein Blick haften: Mauer über Mauer, Brustwehr über Brustwehr, schwarz, unermesslich stark, ein Berg aus Eisen, einTor aus Stahl, ein Turm aus Adamant: So sah er Barad-dûr, Saurons Festung. Alle Hoffnung verließ
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