Der Herr der Unruhe
er bringt keine Menschen um. Vielleicht hast du einen Ringkampf gesehen. Oder es war ein anderer, der nur aussah wie er. Immerhin warst du noch ein Kind und …« Ihre Stimme erstickte in einem Schluchzen.
»Laura«, flehte er inständig. »Meine Kindheit starb in der Nacht des 2. April 1932, als ich deinen und meinen Vater miteinander streiten sah. Der Mord geschah nur wenige Schritte von mir entlernt in einem hell erleuchteten Zi m mer. Ich war im dunklen Flur und konnte alles hören und sehen. Es gibt keine Zweifel. Der angeblich so ehrenwerte Don Massimiliano hat …«
»Schweig!«, zischte sie, und ihre Stimme klang plötzlich so kalt wie Eis.
»Bitte, Laura …!« Er verstummte, weil sie ihm abrupt das tränenfeuchte Gesicht zugewandt hatte.
Ihre Augen funkelten ihn zornig an. »Ich will dich nie mehr sehen, Nico dei Rossi. Und wenn du nicht im G e fängnis landen willst, dann verlass sofort das Haus! Oder ich rufe meinen Vater.«
11. KAPITEL
Der Standhafte
Wien, 1938
Es war ein Wettlauf, den sich niemand wünschte. Den Ve r lierern drohte der Verlust der eigenen Existenz. Als Hitler im März 1938 von den Massen umjubelt sein Geburtsland ins Deutsche Reich »heimholte«, bedeutete das für eine Minderheit das Todesurteil. Zores hatte Johan Mezei das mit Fackeln und Knüppeln bewaffnete Gesindel genannt, das sein Geselle mit viel Massel vertrieben hatte. In den Tagen und Wochen danach bangte Nico weniger um sein eigenes Leben als vielmehr um die zwei, denen er so viel Dank und Liebe schuldete. Wie ein Samenkorn im Boden sterben muss, um eine starke Pflanze hervorzubringen, hatte sich seine Kindlichkeit in den vergangenen Monaten u n merklich aufgelöst. Nun wuchs in dem noch knabenhaften Körper die Persönlichkeit eines unbeugsamen jungen Ma n nes.
Die Regierung hatte, vermutlich auf Druck der ausländ i schen Presse, die Plünderungen von jüdischen Geschäften und die pogromhaften Ausschreitungen in der Nacht vom 11. auf den 12. März ausdrücklich verurteilt. Hitler könne sich also doch nicht alles erlauben, beschwor Lea wie viele ihrer Glaubensgenossen die friedliche Vergangenheit. Off i ziell wurden die »Arisierungen« jüdischer Betriebe als ill e gal bezeichnet, aber ständig hörte man in der Stadt und da r über hinaus von weiteren gewaltsamen Inbesitznahmen durch »wilde Kommissare«. Es mussten Zehntausende sein, die immer noch gierend nach jüdischen Vermögen durch das Land streiften.
»Jetzt ist Chuzpe gefragt«, verkündete Johan am 10. April 1938. Es war der Tag, an dem die Österreicher den bereits vollzogenen Anschluss per Plebiszit absegnen sollten. Die Bischofskonferenz in Wien hatte auf Veranlassung von Kardinal Theodor Innitzer in einem Hirtenbrief die Em p fehlung ausgesprochen, bei dem Volksentscheid mit Ja zu stimmen.
»Chuzpe?«, fragte Nico. »Inwiefern brauchen wir Drei s tigkeit?«
»Um aus diesem Schlamassel herauszukommen, ohne d a bei pleite zu gehen. Wir – Moritz und ich – benötigen noch einige Wochen, bis wir unser Vermögen aufgelöst und nach Italien transferiert haben. Am schwierigsten wird es wohl sein, das Geschäft ohne allzu viel Verlust zu verkaufen. Deshalb werde ich es dir überschreiben.«
»Was willst du tun?«
»Jetzt schau mich nicht so ungläubig an. Du bist Christ …«
»Bin ich nicht !«
»Aber der Vatikan hat dir ein paar hübsche Papiere hi n gemauschelt, die jeden Beamten überzeugen werden. Wenn der Laden dem Uhrmacher Niklas Michel gehört, dann werden die Kommissare ihn nicht konfiszieren.«
»Aber ich bin nicht mal volljährig. Außerdem darf nur ein Meister einen Handwerksbetrieb leiten.«
»Alles richtig. Aber niemand verbietet, dass ein Kind der Eigentümer eines Geschäfts ist. Du darfst einen Meister einstellen, damit der Laden läuft. Wie wär’s mit mir?« J o han grinste.
»Ganz schön unverfroren.«
»Ich sagte ja, jetzt ist Chuzpe gefragt.«
»Wie lange wird das funktionieren? Ich meine, sie haben mich bei der letzten Plünderungsaktion schon als Kollab o rateur beschimpft.«
Der Meister klopfte seinem Gesellen auf die Schulter. »Nur für kurze Zeit, mein Junge, aber das wird uns gen ü gen. Mach dir nicht so viele Sorgen.«
Bis August 1938 hatten die Mezeis ihre Verhältnisse g e regelt. Es war geplant, im Laufe des folgenden Monats nach Italien überzusiedeln. Johan wollte zu Leas Verwandten nach Rom gehen. Sein jüngerer Cousin Moritz – der Schriftsteller – hatte sich für ein
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