Der Herr der Unruhe
etwas weiter nördlich g e legenes Exil in Pitigliano entschieden, die Italiener nannten den toskanischen Ort wegen seiner lebendigen und ve r gleichsweise großen jüdischen Gemeinde La Piccola Ger u salemme, »das kleine Jerusalem«.
Am 8. September fuhren Johan und Nico mit der Tram zur italienischen Gesandtschaft in den III. Bezirk. Das Bo t schaftsviertel lag in nobler Umgebung auf dem Areal der ehemaligen Grünanlagen des Palais Metternich. Im Gebä u de herrschte ein großer Andrang. Augenscheinlich hatten sich viele Emigranten das südliche Nachbarland als Z u fluchtsort oder als Sprungbrett in ein weiter entferntes Exil gewählt.
Nach knapp drei Stunden wurden die Antragsteller zu dem Botschaftsmitarbeiter vorgelassen, der die Einreisevisa aushändigte. Es handelte sich um einen bebrillten pomad i sierten Mann mit schmalen Schultern, weißem Hemd und dunkler Weste. Er hatte sich, aus welchen Gründen auch immer, hinter einem Gitter verschanzt. Nur ein Rundboge n fenster erlaubte den Austausch von sperrigen Dokumenten. Das Namensschild hinter den Stäben wies ihn als Luigi Biondi aus.
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in unserem Land«, sagte der Beamte zu Nico, noch ehe er sich an Johan wandte.
Der Junge war es nicht gewohnt, einem Erwachsenen vorgezogen zu werden. Unsicher nahm er das Visum entg e gen. »Danke.«
»Nun zu Ihnen, Herr Mezei«, sagte Signor Biondi in am t lichem Ton.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Johan ahnungsvoll. Er wirkte noch verletzlicher als sonst.
»Laut Ihren Personaldokumenten sind Sie Hebräer … verzeihen Sie, ich meinte Jude. Das ist doch richtig, nicht wahr?«
»Wenn Ihre Frage darauf abzielt, ob ich inzwischen zum Katholizismus konvertiert bin, dann lautet die Antwort: Ja.«
Signor Biondi rückte mit dem Mittelfinger die Brille auf seiner Nase zurecht. »Sie bekennen sich jetzt zum Christe n tum?« Er klang überrascht.
»Ich habe nur Ihre Frage beantwortet. Ja, ich bin Jude.«
Im Kopf von Signor Biondi nahm alles wieder seinen a n gestammten Platz an, dem entspannten Gesichtsausdruck war es anzusehen. »Na, dann darf ich Ihnen mitteilen, dass der italienische Staat Ihren Antrag auf ein Einreisevisum negativ beschieden hat.«
»Er hat ihn abgelehnt? « Johan sah aus wie jemand, der die Welt nicht mehr verstand.
»Aber Sie haben doch mir ein Visum ausgestellt«, misc h te sich Nico in die Amtshandlung. »Wieso verweigern Sie den Mezeis …«
»Junger Mann«, unterbrach ihn streng der Beamte. »Ich wiederhole es gerne noch einmal ganz langsam zum Mi t schreiben: Sie sind Christ, Ihr Begleiter dagegen Jude. Bis Ende August durften die Botschaften noch Touristenvisa für ausländische Juden ausstellen. Jetzt nicht mehr. Mit Wirkung vom 7. September 1938 hat der Duce sogar ein Dekret erlassen, demzufolge sämtliche ausländische Juden aus Italien auszuweisen sind. Tut mir Leid.«
»Wer’s glaubt!«
»Zügeln Sie sich, junger Mann! Ich tue hier nur meine Pflicht. Und nun machen Sie bitte beide den Schalter frei.«
»Aber meine Frau ist Italienerin.«
Signor Biondi seufzte. »Herr Mezei. Meinen Unterlagen zufolge ist Frau Lea Mezei, Ihre Gemahlin, österreichische Staatsbürgerin … Nein.« Er lachte affektiert. »Jetzt haben Sie mich doch tatsächlich aus dem Konzept gebracht. Ö s terreich ist ja jetzt die Ostmark. Also, hätten Sie und Ihre Frau gültige Personaldokumente eingereicht, dann wären Sie jetzt Bürger des Deutschen Reiches.«
»Dann haben Sie nicht genau hingeschaut. Lea ist eine geborene Ticiani, und sie hat in Italien nie ihre Ausbürg e rung beantragt. Sie können ihr und damit auch mir als i h rem Mann nicht die Einreise in ihr Heimatland verwe i gern.«
Offenbar wich dieser Fall vom üblichen Schema ab. Si g nor Biondi wirkte mit einem Mal verstört. Nervös blätterte er in seinen Unterlagen und murmelte: »Tatsächlich.«
»Sie dürfen ihnen das Visum nicht verweigern«, beschied Nico.
Der Beamte hob den Blick. »Werter Herr Michel. Darüber entscheidet immer noch das italienische Recht. Ich muss den Fall prüfen lassen.«
»Sollen wir noch einmal wochenlang warten?«, klagte J o han. »Sie müssen doch auch mitbekommen haben, was hier los ist.«
»In die inneren Angelegenheiten unseres Gastlandes m i schen wir uns nicht ein, Herr Mezei …« Signor Biondis Gesicht blieb ausdruckslos, aber seine Augen musterten den Antragsteller ungewöhnlich lang. Plötzlich schien in ihm etwas aufzubrechen. Er beugte sich vor und
Weitere Kostenlose Bücher