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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Zuhause gewesen war. Jetzt rollte eine Ve r haftungswelle durch das Land, der sie genauso knapp en t gangen waren wie dem Mob vor zwei Tagen. Die gleichg e schaltete Presse hatte bisher wenig über die so g e nannte »Reichskristallnacht« verlauten lassen.
    Dem Vernehmen nach habe sich der Volkszorn am Atte n tat eines Juden entzündet, das dem Sekretär der deutschen Botschaft in Paris ein vorzeitiges Ableben beschert hatte. Der jüdische Schüler Grynspan sei am 7. November als Täter festgenommen worden. Nico traute den Nationalsoz i alisten durchaus zu, das alles nur inszeniert oder zumindest, wenn es denn stimmte, als Vorwand für eine reichsweite Aktion missbraucht zu haben. Ein ehemaliger Kunde, den er am Donnerstagmorgen getroffen hatte, ließ jedenfalls eine dementsprechende Bemerkung fallen. Sein Nachbar, flüsterte er, der sei Führer des örtlichen SS-Sturms und der habe angeblich schon vor Ausbruch des Pogroms davon gewusst. Allein die Eindrücke aus Nicos unmittelbarer Umgebung hatten ihn den Zynismus in der bagatellisiere n den Umschreibung »Kristallnacht« wie bittere Galle schmecken lassen. Das Glitzern zerbrochener Schaufenster war noch harmlos im Vergleich zu den brennenden Sy n agogen, den entweihten Thorarollen, den geplünderten und zerstörten Geschäften, den misshandelten und vergewalti g ten Menschen. Und den Toten. Ja, der »spontane« Volk s zorn hatte auch Menschenleben gekostet. Wie viele, das wagte sich Nico nicht auszumalen.
    Als der Zug am Mittag des 13. November 1938 die Gre n ze nach Italien passierte, wähnten sich die Flüchtlinge en d lich in Sicherheit. Johan Mezei öffnete seine braune Akte n tasche und zog eine kleine, in hellblaues Papier eingeschl a gene Schachtel hervor. Ein goldenes Band entlarvte sie ei n deutig als Geschenk.
    »Hier, das ist für dich«, sagte der Meister.
    Nicos Kopf schaukelte auf seinen Schultern, während der Zug über seinem sprachlosen Staunen wohl an die tausend Meter zurücklegte.
    »Nun nimm es schon. Es gehört dir«, ermutigte ihn Lea.
    Der Junge griff still nach dem Kästchen und öffnete die Verpackung. In der hellgrauen Pappschachtel lag, gebettet auf einem dunkelblauen Filztuch, eine silberne Taschenuhr. »Aber das ist ja …«
    »Meine Lebensuhr«, sagte Johan. Das Erstaunen des Ju n gen bereitete ihm sichtlich Freude.
    »So ein wertvolles Geschenk kann ich nicht annehmen. Außerdem habe ich dir doch damals gesagt, dass du sie nicht zu fürchten brauchst. Sie ist …«
    »Niklas«, unterbrach der Meister ihn mit milder Strenge. »Lass uns nicht darüber streiten. Mir ist wohler, wenn du die Uhr nimmst. Du hast ihr Herz wieder zum Schlagen gebracht, und solange sie dir gehört, wird sie nicht stehen bleiben, dessen bin ich gewiss. Ich finde, das ist Grund g e nug, sie zu deiner Lebensuhr zu machen.«
    Nico klappte die Taschenuhr auf, bewunderte das schlic h te, weiße Metallzifferblatt mit den scharf gezeichneten ar a bischen Ziffern, die grünlichen Leuchtmarkierungen zur Orientierung in der Nacht, den munter kreisenden Seku n denzeiger, und dann entdeckte er die frische Gravur auf der Innenseite des Deckels.
     
    »Zeit ist Leben und Leben ist Zeit.«
    Für Nico, den Liebling nicht allein der leblosen Dinge,
    von Johan und Lea,
    denen du zum Sohn geworden bist.

12. KAPITEL
Der Zeuge
     
    Rom, 1943
     
    Unwirsch blickte Nico auf das Zifferblatt seiner Tasche n uhr. Es war bereits kurz vor elf. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, fischte einen zerknitterten Zettel hervor und prüfte noch einmal die mit dem Kunden für diesen Morgen getroffenen Vereinbarungen:
     
    Palmiro Madesani
    Via Tiburtina 113 (San Lorenzo)
    Breguet-Taschenuhr: gold, autom. Aufzug
    mit Gangreserveanzeiger
    Tourbillon-Lagerung überprüfen
    Auslieferung: Freitag, 19. Juli 1943, 10.30 Uhr
     
    Alles stimmte. Der Witwer musste ihn versetzt haben. N i co stopfte den Zettel in die Brusttasche zurück. Er würde noch bis elf warten und dann nach Hause zurückmarschi e ren. Die Strecke vom Viertel Trastevere zu der geschicht s trächtigen Via Tiburtina im Stadtteil San Lorenzo war nicht gerade eine Weltreise, aber wenn man sie zu Fuß zurückl e gen musste, auch kein Pappenstiel.
    Nico hielt seinem Kunden das Alter zugute; er schätzte Signor Madesani auf mindestens siebzig. Der pensionierte Staatsdiener hatte selbst eingeräumt, dass er seit dem Tod seiner Ehefrau vor sieben Jahren – sie war eine berühmte Schriftstellerin gewesen – »immer ein wenig durch

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