Der Herr der Unruhe
den Wind« sei.
Er verließ die Wohnungstür, um sich durch das schmale Fenster im Zwischenstock das bunte Treiben auf der Straße anzusehen. Das Wohnhaus stand gegenüber dem Campo Verano, einem großen Friedhof.
Nach einigen Minuten des Wartens zog er den Karton mit der Uhr des Kunden aus der Tasche. Es war ein einzigart i ges Stück wie wohl alle Schöpfungen des großen Abraham Louis Breguet. Eine seiner Uhren zu tragen vermittelte e i nem das Gefühl, das Gehirn eines Genies in der Tasche zu haben. Ohne das Andenken an seinen Vater und Meister Mezei schmälern zu wollen, war Breguet Nicos großes Vorbild. Vielfach kopiert, nie erreicht – diese oft strapazie r te Floskel traf auf den im schweizerischen Neuenburg g e borenen Uhrmachermeister ohne Einschränkung zu. Nicht ohne Grund hatte er seine Zifferblätter, gewöhnlich zw i schen der Befestigungsschraube und der Zwölf, mit einem Diamantstift signiert. Diese Geheimmarkierungen waren nur unter einem bestimmten Blick- und Lichteinfallswinkel zu lesen. Das Exemplar in Nicos Händen besaß darüber hinaus ein Zertifikat von George Brown in Paris, der die Aufzeichnungen über sämtliche etwa sechstausend von Breguet hergestellte Uhren verwahrte.
Nico verstand es als großen Vertrauensbeweis, das übe r aus wertvolle Stück reparieren zu dürfen. Meister Davide hatte den Kunden an ihn verwiesen. Seit seiner Flucht aus Nettunia vor drei Jahren hielt Nico sich mit solchen Auftr ä gen über Wasser. Viel Geld brauchte er ohnehin nicht. Zum einen waren die Lebensmittel rationiert, und auf der and e ren Seite reizten ihn weder Vergnügungen noch andere Ex t ravaganzen. Als er – von Laura abgewiesen – aus seiner Geburtsstadt nach Rom geflohen war, hatte er versäumt, sein Lachen mitzunehmen.
Er bewunderte immer noch die Breguet-Uhr, als er plöt z lich das Heulen von Sirenen hörte. Besorgt spähte er durch das Fenster zum Himmel hinauf. Er musste an das Radi o programm der BBC denken, das er vor drei Tagen in seiner Wohnung verfolgt hatte. Franklin D. Roosevelt und Win s ton Churchill forderten das italienische Volk in der Se n dung zur Kapitulation auf, »um eine größere Vernichtung zu verhindern«. Vorgestern hatte sich dann Sirenengeheul über die Dächer der Stadt erhoben und endgültig die Illus i on vertrieben, der zweite große Krieg des Jahrhunderts werde die Ewige Stadt verschonen. Die Menschen waren verstört in die Luftschutzkeller gerannt, aber keine Bomben fielen vom Himmel, sondern nur Papier. Auf den Flugblä t tern wurde die Bevölkerung über einen möglichen Angriff auf militärische Einrichtungen in der Nähe Roms info r miert. Die Verfasser beteuerten jedoch, sie würden mit größtmöglicher Mühe die Vernichtung von Privatgebäuden und Kulturdenkmälern zu vermeiden suchen. Und jetzt n ä herten sich ganze Schwärme von Bombern.
Einen Moment lang war Nico wie versteinert. Ihn lähmte weniger der Anblick der kleinen Punkte, die ab und zu in den Wolken auftauchten, sondern vielmehr das tiefe G e dröhn der Motoren. Als von der Straße Schreie an sein Ohr drangen, fiel die Starre langsam von ihm ab, und als ihm der Kurs der todbringenden Himmelsarmada bewusst wu r de, begann er zu laufen. Die Kampfflugzeuge hielten direkt auf das römische Viertel San Lorenzo zu.
Im Erdgeschoss wurde er von einem Strom von Me n schen mitgerissen, nicht hinaus auf die Straße, sondern hi n unter in den Keller. Wenig später saß er, eingekeilt zw i schen einer zahnlosen Alten und einem stoppelbärtigen, nach Fisch riechendem Mittvierziger, auf einer grob g e zimmerten Holzbank und betete. Vor dem einzigen Fenster des muffigen Gewölbes lagen nicht einmal Sandsäcke. Er wollte sich lieber gar nicht erst vorstellen, was geschähe, wenn eine Bombe auch nur in der Nähe des Hauses expl o dierte.
Die Frauen, Kinder und Männer saßen und standen dicht aneinander gedrängt. Aus verschiedenen Ecken des großen Raumes ertönte Wimmern und Schluchzen, vereinzelt auch ein gemurmeltes Gebet. Ein kleines Mädchen schrie wie am Spieß. Der Mann mit dem Fischgeruch beschwerte sich, bis ihm ein kräftig gebauter Straßenarbeiter übers Maul fuhr. Alle hofften, der brummende Schwarm möge vorüberzi e hen.
Wer Nico in diesem Moment beobachtete, mochte sich über die scheinbare Teilnahmslosigkeit des stillen Mannes wundern, der durch seinen Vollbart und die Nickelbrille älter aussah, als er tatsächlich war. Sein Gesicht zeigte ke i ne Regung, sein glasiger Blick war
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