Der Herr der Unruhe
auf den Boden gerichtet, seine Gedanken trieben träge dahin. Vor auf den Tag genau siebenunddreißig Monaten war er der Spinne Phlegma ins Netz gegangen. Anfangs hatte er sich noch gewehrt, wie jedes Insekt es tut, dem dergleichen widerfährt. Die im P a lazzo Manzini gefundene Namenliste hatte ihn an seinen Vorsatz erinnert, nie wieder durch Passivität zum Leid a n derer beizutragen. Also rief er zuerst Meister Davide in Rom an und legte ihm nahe, mit seiner Frau wieder einmal die Verwandten in Sardinien zu besuchen – man konnte ja nicht wissen, ob Don Massimiliano beim Anblick seines ausgeräumten Tresors nicht sofort wieder Mordpläne schmiedete. Anschließend strampelte sich Nico für Me n schen ab, von denen er die meisten nicht einmal kannte. Tagsüber versteckte er sich im weitläufigen Park der Villa Borghese, und nachts zog er durch die Straßen von Nett u nia, um Zettel unter Wohnungstüren hindurchzuschieben. Der Inhalt war, abgesehen von wenigen Variationen, vie r undfünfzig Mal der gleiche.
Ihr Leben ist in Gefahr! Massimiliano Manzini hat Sie und Ihre Angehörigen auf einer schwarzen Liste erfasst, die bis zu dem ermordeten Uhrmachermeister Emanuele dei Rossi zurückreicht. Auch die kürzlich verschleppte Familie Katz ist in dem Register verzeichnet. Ihr Stadtvorsteher wird Sie verraten. Fliehen Sie, solange Sie es noch können.
Ein Freund, der zu ohnmächtig ist, um mehr für Sie zu tun
Niemand nahm Kenntnis davon, als Nico der Stadt schlie ß lich den Rücken kehrte und auf Albinos Rücken nach Rom ritt. Wie viele Menschen auf seine Warnung re a giert hatten, wusste er nicht, und bald interessierte es ihn auch nicht mehr. Denn nun verstrickte er sich immer weiter in das Netz der Lethargie. Er verlor die Freude an allem, was Menschen für ihr Glück wichtig finden. Ohne seine Freu n de wäre er womöglich eingegangen wie ein gefang e nes Tier an einem Ort ohne Licht.
Davide und seine Frau Salomia wie auch Johan und Lea Mezei hatten ihm abgeraten, die erbeuteten Dokumente den Ermittlungsbehörden zu geben, was Nicos Seelenschmerz anfangs nur vergrößerte. Wozu der monatelange Kampf gegen das Ungetüm Manzini?, hatte er sich gefragt. Warum musste er Laura aufgeben, wenn ihm die Beweisstücke nun doch nichts nützten? Auf dem Tiefpunkt seiner Verzwei f lung, hatte Davide wieder einmal Lorenzo Di Marco ang e rufen.
Der Benediktinermönch war froh gewesen, Nico äuße r lich wohlbehalten wiederzusehen, aber dessen seelischer Zustand bereitete ihm Sorge. Sie trafen sich danach noch mehrere Male, manchmal sogar im Vatikan. Lorenzo hatte sein altes Credo wiederholt:
»›Zur bestimmten Zeit wird ihr Fuß wanken.‹« Danach fügte er in beschwörendem Ton hinzu: »Verwahre das Au f tragsbuch deines Vaters, Nico. Und auch die anderen Schriftstücke. Im Moment führt Fürst Tringali Casanova in der Aula IV des Justizpalastes noch seine Schauprozesse auf. Der Gerichtspräsident schnitzt seine Urteile mit dem Beil, und Mussolini führt ihm dabei die Hand. Solange das Recht in diesem Land mit Füßen getreten wird, bringen dir deine Beweise überhaupt nichts. Übe dich in Geduld. Die Willkür wird enden, und dann bricht deine große Stunde an.«
»Bis dahin bin ich innerlich verdorrt«, hatte Nico darau f hin geantwortet, und genauso fühlte er sich jetzt, während er zwischen all den schwitzenden Leibern in der sich schnell verbrauchenden Luft hockte und sich fragte, ob er nicht besser hätte draußen bleiben sollen. Wie eine zornige Antwort aus dem Himmel erklang plötzlich die erste Det o nation.
Die Explosion erfolgte ganz in der Nähe. Das Haus über dem Schulzraum zitterte. Staub rieselte von der gemauerten Decke. Schreie hallten durch den Keller. Eine Frau wollte gar nicht mehr aufhören. Mehrere Kinder brüllten. Aber das war erst der Anfang.
Jetzt hagelten die Bomben förmlich auf das Viertel ni e der. Von nah und fern waren die Einschläge zu hören. Die Erde bebte. Nico glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Er fühlte, wie sein Herz raste. Plötzlich rief eine Frau in seiner Nähe.
»Wo ist Nina?« Es war eine Mutter, die auf einen Sit z platz verzichtet hatte. Keines ihrer fünf Kinder war älter als zehn. Wie die Orgelpfeifen hingen sie an ihr und intonie r ten ein Konzert der Angst. Die schrille Stimme der Frau erhob sich sirenenhaft aus dem Gejammer und Gegreine. »Ich kann meine Tochter nicht sehen. Nina! Wo bist du?«
Langsam erhob sich Nico. Wie in Zeitlupe arbeitete
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