Der Herr der Unruhe
er sich durch die Menschen zu der Mutter. Mechanisch nahm er die Brille ab und steckte sie sich in die äußere Brustt a sche seines Jacketts – obwohl die Gläser keinen optischen Schliff hatten, störten sie ihn immer, wenn etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er beobachtete einen M o ment lang, wie sie ihre weinenden Kinder tröstete, obwohl sie selbst längst am Rande der Verzweiflung war. Dann begann er ruhig zu sprechen.
»Mein Name ist Nico. Wie sieht denn Ihre Tochter aus?«
»Sie ist meine zweitjüngste. Erst vier. So groß.« Die Frau zeigte mit der flachen Hand nach unten.
»Was hat sie an?«
»Ein kurzärmeliges, dünnes Kleidchen. Rosa-weiß k a riert.«
»Vermutlich dunkelhaarig wie Sie, Signora …«
»Grazia. Ja, Ninas Lockenschopf ist kohlrabenschwarz.«
»Sie hat kurz-lange Haare«, sagte ein höchstens dreijähr i ger Junge.
Nico sah Grazia fragend an.
»Benito meint, halblang. Ungefähr so.« Sie legte die A u ßenkante ihrer Hand an den eigenen Nacken.
»Wo haben Sie die Kleine zuletzt gesehen?«
»Draußen auf der Straße, als wir mit den anderen in das Haus drängten.«
Nico nickte. »Ich gehe sie suchen.«
»Hören Sie nicht, was da draußen los ist? Sie werden ze r fetzt werden«, grunzte ein bebrillter Mann um die fünfzig.
Dann bin ich entweder erlöst, oder ich fühle endlich wi e der was. Nico hob beschwichtigend die Hand. »Wäre es Ihnen lieber, wenn das Kind zerrissen wird?«
Einige murmelten zustimmend.
»Sie werden uns alle in Gefahr bringen, wenn Sie jetzt da rausgehen«, knurrte ein anderer.
»Machen Sie einfach die Tür hinter mir wieder zu«, an t wortete Nico.
»Danke, Signore«, sagte die Mutter.
Nico brachte kein aufmunterndes Lächeln zustande. »Wenn sie da draußen ist, finde ich sie«, war alles, was er zu ihrem Trost sagen konnte.
Drei Minuten später wandelte er im Chaos. Etliche Hä u ser in der Via Tiburtina brannten. Das Pflaster war mit Trümmern unterschiedlichster Größe übersät. Rauch ve r dunkelte den Himmel über den Dächern. Und der tödliche Hagel von dort oben hielt immer noch an. Menschen, die keinen Luftschutzraum gefunden hatten, liefen kreuz und quer über die Straße, manche durchaus zielstrebig, wenn sie in einem Hauseingang oder anderswo Deckung suchten, andere völlig kopflos dahintorkelnd. Ganz in der Nähe sah Nico einen reglosen Körper in einer großen Blutlache li e gen. Von dem Mädchen fehlte jede Spur.
Er lief, während er unablässig ihren Namen rief, in Ric h tung der Basilika San Lorenzo fuori le Mura, aus der ebe n falls Flammen schlugen. Sein Blick war von Tränen ve r schleiert, er hätte nicht sagen können, ob vom beißenden Qualm oder der Verzweiflung über den unbegreiflichen Anblick, der sich ihm bot. Ein Angst erregendes Pfeifen ertönte. Sofort ließ er sich auf den Boden fallen. Dann krachte es so laut, dass er fürchtete, seine Trommelfelle würden platzen. Putz und Steine rieselten auf ihn herab.
»Nina!«, brüllte er. Die eigene Stimme dröhnte dumpf in seinem Kopf. Vielleicht hätte er der Mutter doch kein so leichtfertiges Versprechen geben sollen.
Plötzlich blieb sein Blick an einem umgestürzten, oben offenen Lieferwagen hängen. War da nicht eben eine B e wegung gewesen, ein helles Aufleuchten aus pastellfarb e nem Licht? Nico schätzte die Entfernung bis zum Fahrzeug auf mindestens sechzig Meter. Die Ladung hatte aus Wa s sermelonen bestanden, die nun – bizarrerweise bis auf ein i ge wenige völlig unversehrt – das Bild der Verwüstung mit grün-gelben Tupfern dekorierten. Er begann zu laufen.
Bei einem lichterloh brennenden Haus musste er auf die andere Straßenseite ausweichen, weil die Hitze jeden, der ihr zu nahe kam, hätte in Flammen aufgehen lassen. Fast wäre er dabei zu Fall gekommen. Sein Fuß stieß gegen den Schädel der immer noch schwelenden Leiche eines Me n schen – er wusste nicht, ob es ein Mann oder eine Frau g e wesen war. Halb blind taumelte er weiter.
Die Kakophonie aus Bombeneinschlägen, dem Bersten einstürzender Mauern, dem Prasseln der Flammen und dem Schreien verzweifelter und verletzter Menschen war ohre n betäubend. Trotzdem glaubte Nico ein leises Greinen zu vernehmen, als der umgestürzte Kleinlastwagen nur noch wenige Meter entfernt war. Mit jedem Schritt wurde die jammernde Stimme lauter. Und dann sah er es.
Das kleine Mädchen saß hinter der Ladefläche, mit dem Po auf dem Pflaster, die Beine lang ausgestreckt, rieb sich mit den Händchen
Weitere Kostenlose Bücher