Der Herr der Unruhe
unentwegt die Augen und heulte sich die Seele aus dem Leib. Sein linkes Bein war unter der Hec k flosse einer großen Bombe eingeklemmt.
»Allmächtiger!«, stieß Nico hervor. Im Nu war er bei der Kleinen und nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Du bist Nina, nicht wahr?«
Ihr Weinen ging in ein Schluchzen über, und sie nickte. Nico konnte erkennen, dass der Stabilisator des Sprengkö r pers zwar die Haut an ihrem Oberschenkel geritzt hatte, aber nicht ins Fleisch eingedrungen war. Das war die gute Nachricht.
»Tut es sehr weh, Nina?«
Sie schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf.
»Hör mir zu, meine Kleine. Bleib ganz ruhig so sitzen. Deine Mama hat mich geschickt. Ich werde dich zu ihr bringen. Nachdem ich das schwere Ding da zur Seite g e räumt habe. Lass mich nur einen Moment nachdenken.«
Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Na, dann lass dir mal was einfallen und zwar schnell! Es gab schon genug Erschütterungen im Umkreis, aber er befürchtete das Schlimmste, wenn er jetzt auch noch die Lage der Bombe veränderte. Zunächst versuchte Nico zu begreifen, was ü berhaupt geschehen war. Er streichelte Ninas Wange und sah sich um. Unweit entdeckte er einen abgerissenen Ba l kon und darunter ein auffälliges Loch in der Hauswand, beide Schäden schienen nicht von einer Explosion herz u rühren. Möglicherweise war der Blindgänger dort eing e schlagen, mit gebremster Wucht zu Boden gefallen, a n schließend über die Straße gerollt und erst vor dem Lastw a gen zum Stehen gekommen. Wie auch immer, er musste zwei Dinge tun: dem Mädchen helfen und der Bombe R e spekt zollen.
Sie war Ehrfurcht gebietend dick. Das Abwasserrohr e i nes ganzen Häuserblocks dürfte ungefähr den gleichen Durchmesser haben, schätzte Nico. Nach hinten verjüngte sie sich und besaß die schon erwähnten Leitwerke. Vorne war sie kugelrund. Er hatte keine Ahnung, wo der Zünder von so einem Ding steckte, wusste nicht einmal sicher, ob er noch scharf war. Nico legte die Hand auf den eisernen Leib und schloss die Augen. Doch, er ist noch scharf.
Als Nächstes begann er eine kleine Melodie zu summen. Ninas Schluchzen verstummte. Staunend starrte sie den fremden Mann an, der sich bei all dem Durcheinander die Zeit nahm, ihr ein Liedchen vorzutragen. Ebenso überr a schend, wie die Darbietung begonnen hatte, endete sie auch wieder.
Plötzlich legte Nico die zweite Hand an die Bombe und rollte sie den Bruchteil einer Umdrehung herum. Dadurch hob sich der Heckflügel von Ninas Bein.
»Zieh es heraus, schnell!«, forderte er sie auf.
Sie gehorchte.
»Lauf zu der Hauswand da rüber und dann die Straße en t lang. Ich komme sofort nach«, befahl er hierauf, während er in die bezeichnete Richtung deutete. Den Sprengkörper ließ er nicht los.
Nina tippelte davon.
Nun stemmte Nico die Bombe um etwas weniger als fünfundvierzig Grad herum und gab ihr einen Stoß. Danach rannte er in die entgegengesetzte Richtung. Er wollte lieber nicht ausprobieren, ob der Zündmechanismus nach seiner »Spezialbehandlung« eventuell doch wieder erwachen wü r de.
Unterwegs schnappte er sich das Mädchen – es war noch nicht weit gekommen. Rasch hielt er ihr die Hand vors G e sicht, um ihr den Anblick der verkohlten und zerfetzten Leichen zu ersparen. Das Bombardement hatte inzwischen nachgelassen, aber als er endlich in den Hauseingang stür m te, hinter dem Nina ihrer Mutter wiedersehen sollte, hörte er hinter sich eine gewaltige Detonation. Die wenigen Fensterscheiben, die noch nicht zu Bruch gegangen waren, zerbarsten wie das dünne Eis des ersten Frosts.
Kurz darauf konnte Nico das Mädchen den Armen seiner Mutter übergeben. Sie war außer sich vor Glück, und die Menschen im Keller jubelten und fielen sich um den Hals. Manchen hatte er nach dem Schrecken der letzten Minuten wieder ein wenig Hoffnung gespendet. Nur der Held selbst, der im Viertel bald als »Bombenzähmer von San Lorenzo« bekannt werden sollte, blieb sehr still. Trotzdem empfand er nach den vergeudeten Monaten der Trostlosigkeit zum ersten Mal wieder einen Tag als Gewinn. Er hatte ein ju n ges Leben gerettet. Er fühlte wieder etwas.
Und er konnte wieder lächeln.
Der Überlieferung zufolge hatte Nero am 19. Juli des Ja h res 64 Rom in Brand gesetzt. Durch den Bombenabwurf der Alliierten wurde dieser Tag endgültig stigmatisiert. Zumi n dest Nico brannte er sich als Anniversarium der Mensche n verachtung ein. Nach allem, was er seit dem Mord an se i nem
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