Der Herr der Unruhe
verfügte Inhaftierung auslä n discher und staatenloser Juden war keineswegs lückenlos umgesetzt worden. Es hätte schon einer Privatarmee bedurft …
Erneut ließ ein Gedanke Nico innehalten. Er versuchte sich an den Inhalt der anderen Dokumentenmappen zu e r innern, die er im Juni 1940 ratlos gelesen und bald wieder beiseite gelegt hatte. Wahllos griff er sich einen braunen Pappdeckel vom Stapel und schlug ihn auf.
»Fleischkonserven!«, schnaubte er. Manzini hatte Ta u sende Dosen davon eingekauft, außerdem auch Fisch, Er b seneintopf, Brühwürfel, Salz, Mehl – das Schriftstück las sich wie die Einkaufsliste einer mehrere hundert Köpfe starken Großfamilie. Damit ließ sich kein Krieg führen.
»Zement?«, murmelte Nico beim nächsten Dokument. Fast kam es ihm so vor, als habe der Podestà von Nettunia einen Staudamm bauen wollen, bei all den Baumaterialien, die er eingekauft hatte. Sogar zwei Bulldozer befanden sich auf der Wunschliste …
Wessen Wunschliste? ’, lautete die nächste Frage, die in Nicos Kopf auftauchte. Als Gemeindemechaniker hatte er einen recht guten Überblick gehabt, was die Bauvorhaben in Nettunia anbetraf. Da gab es Reparaturen an der Hafe n mole, beim Krankenhaus, nicht zu vergessen der Uhrenturm des Palazzo Comunale, aber nichts, was einen derartigen Materialaufwand rechtfertigte.
Ratlos schob Nico die Papiere umeinander. Was sollte das? Handelte Manzini mit dem Zeug? Denkbar wäre es. Er besaß ja viele Firmen, wenngleich er bei kaum einer als Inhaber in Erscheinung trat. Wenn Waffen auf seinen Li s ten ständen, dann hätte Nico ihn als Kriegsgewinnler abg e stempelt, aber selbst das war wohl nicht verboten. En t täuscht ließ er sich in die Lehne zurücksinken. Nein, er ha t te nichts in der Hand, um sofort gegen seinen Kontrahenten loszuschlagen. Wohl oder übel würde er warten müssen, bis sich die politische Großwetterlage im Land änderte. Ho f fentlich passierte es bald. Und hoffentlich mussten nicht so viele Unschuldige darunter leiden.
Die Ewige Stadt lebte nun in ständiger Angst. So ganz konnten die Beteuerungen der Kriegführenden, dass sie den Schutz der römischen Kulturschätze vor ihre strategischen Erwägungen stellten, nicht stimmen. Am 13. August 1943 wurde ein weiterer schwerer Angriff auf Rom geflogen, und es sollte nicht der letzte bleiben. Trotzdem hatte sich für Nico bis dahin einiges verändert, das ihm neuen Mut ei n flößte.
Das verheerende Bombardement von San Lorenzo, in dem an die dreitausend Menschen ums Leben gekommen waren und nicht weniger als zehntausend verletzt wurden, hatte Benito Mussolinis bereits im Sinken begriffenen Stern zum Absturz gebracht. Er selbst weilte in Verona, während seine Untertanen starben, um sich mit Hitler über Abweh r maßnahmen gegen die nächsten Angriffe der Alliierten zu beraten. Bei seiner Rückkehr in die Hauptstadt musste er sich vor dem Großrat des Faschismus für die militärische Krise verantworten. Nach einer stürmischen Debatte spr a chen die Gefolgsleute ihrem Führer das Misstrauen aus. König Vittorio Emanuele III. ließ den Duce am 25. Juli unter militärischen Gewahrsam stellen und rief Marschall Pietro Badoglio auf, eine neue Regierung zu bilden.
Schon kurz nach Amtsantritt des neuen Ministerpräside n ten zeichnete sich ab, dass der alte Machtapparat demontiert werden sollte. Unter dem Duce selbst noch Generalstab s chef, machte Badoglio sich jetzt mit militärischer Zähigkeit daran, sämtliche faschistischen Organisationen zu liquidi e ren. Nur im Kampf gegen die Invasoren schien er nicht klein beigeben zu wollen. Was zunächst wie die bockbein i ge Zähigkeit eines alten Frontkämpfers aussah, entpuppte sich jedoch bald als Kriegslist. Während in ganz Italien noch die Friedensdemonstrationen im Gange waren, hatte er seine Vertreter nach Lissabon geschickt, um mit den A l liierten einen geheimen Handel abzuschließen, deren Kla u seln erst nach und nach an die Öffentlichkeit drangen. Nach dem 3. September verbreitete sich bald das Gerücht, ein Waffenstillstand sei geschlossen worden.
»Soll ich immer noch warten?«, fragte Nico den Mönch, der ihm in den letzten Monaten mehr als andere ein Ratg e ber in kniffligen Fragen geworden war. Sie hatten sich zu einem Sonntagabendspaziergang durch die Vatikanischen Gärten verabredet. jetzt saß Lorenzo Di Marco neben ihm auf einer Steinbank und wirkte sehr nachdenklich.
Das Gesicht des Benediktiners war immer noch so j u gendlich
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