Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
die englischen. Am 10. Juli waren die Amer i kaner und ihre Verbündeten auf Sizilien gelandet und e r oberten inzwischen immer weitere Teile der Halbinsel. Jetzt, neun Tage später, fielen Bomben auf Rom. Bald wü r de sich das Blatt wenden und Massimiliano Manzini den Schutz der Obrigkeit verlieren.
    Langsam erwachte Nico aus seiner Versunkenheit und begab sich an die Untersuchung seiner Beute. Als Erstes öffnete er die Kladde bei dem metallenen Lesezeichen. Der Anblick des rotbraunen Daumenabdrucks ließ ihn unwe i gerlich frösteln.
    Natürlich hatte er die aus dem Palazzo Manzini entführten Dokumente schon vor drei Jahren gesichtet und an die N a men auf der mehrseitigen Liste seine Warnung ergehen lassen. Er hatte auch mit den wenigen Vertrauten, die er besaß, über den blutigen Abdruck gesprochen.
    Die Linien an den Fingerkuppen jedes Menschen auf der Erde seien einzigartig, hatte Meister Davide gesagt. Em a nuele dei Rossi war wie sein Sohn ein sehr feingliedriger Mann gewesen. Der Größe des Abdrucks nach zu urteilen, stammte er von Manzinis Daumen. Lorenzo Di Marco war trotzdem dagegen gewesen, das Beweisstück zum Staat s anwalt zu tragen und damit aus den Händen zu geben. »Selbst wenn ein Wissenschaftler herausfinden könnte, wessen Blut an Don Massimilianos Händen geklebt hat, solltest du dir diesen Schritt gründlich überlegen«, warnte er den Sohn des Ermordeten eindringlich. Ein unterschl a genes Beweisstück sei ein verlorenes Beweisstück.
    Gedankenversunken löste Nico die Metallklammer von den Seiten, was er bisher versäumt hatte. Von hinten nach vorne las er die Namen und Adressen von Kunden, die B e wertung und Beschreibung von Uhren mit ihren Wehwe h chen, die Daten von Ab- und Rückgabe, von Rechnungsl e gung und Bezahlung, von Reklamationen und …
    Nico stutzte. Sein linker Daumen strich über einen kle i nen blauen Punkt vor dem Namen eines gewissen Primo Machlin. Er halte im Februar 1929 den Bau einer aufwä n digen Taschenuhr in Auftrag gegeben. Nico konnte sich aus zweierlei Gründen an den drahtigen kleinen Tuchhändler aus Anzio erinnern: Erstens gehörte er der jüdischen G e meinde an und zweitens …
    Hektisch begann Nico in den Aktendeckeln zu wühlen. Er öffnete einen nach dem anderen, warf einen Blick hinein und legte ihn zur Seite. Endlich fand er die schwarze Ma p pe mit der ominösen Namenliste. Sein Finger hatte schnell den Eintrag gefunden, denn er befand sich weit oben auf der Liste.
    »Primo Machlin«, flüsterte er. »Ein vermögender Mann!«
    Jetzt ging Nico systematisch das Auftragsbuch seines V a ters durch. Seite für Seite verglich er die darin vermerkten Namen mit jenen auf der Liste und entdeckte dabei noch viele kleine blaue Punkte. Das Ergebnis war niederschme t ternd.
    Die schwarze Liste des Massimiliano Manzini basierte auf dem Auftragsbuch seines Opfers Emanuele dei Rossi.
    Erst weiter hinten fanden sich andere Namen wie derjen i ge von Bruno Sacchi und Nico dei Rossi. Aus den Ko m mentaren in der Bemerkungsspalte ließ sich entnehmen, welchem »Makel« die inzwischen Gewarnten ihren Platz im Todesverzeichnis verdankten. Nach den Juden kamen Kommunisten und Sozialisten, Angehörige der Giustizia e Libertà oder anderer oppositioneller Bewegungen, aber auch Mitglieder religiöser Gruppen wie der Pfingstgemei n de oder Jehovas Zeugen waren aufgelistet, sogar Homos e xuelle – alle, die das faschistische Regime per Gesetz und Verordnung gebrandmarkt hatte.
    »Alle?«, murmelte Nico. Was seine Glaubensgenossen anbetraf, kannte er sich noch ganz gut aus. In Gesprächen mit anderen Juden, die das Gros seiner Kunden ausmac h ten, hatten sich zwei von drei als erwerbslos entpuppt. Durch die Erlasse der faschistischen Regierung war ihnen die Lebensgrundlage entzogen worden. Aber er konnte nicht sagen, ob Mussolini inzwischen tatsächlich alle in der schwarzen Liste aufgeführten Gruppen unter Bann gestellt hatte. Eines wusste er allerdings gewiss. Bei den Nationa l sozialisten im so genannten Großdeutschen Reich waren sie geächtet …
    Ein ungeheuerlicher Gedanke drängte sich ihm auf. U n willig schüttelte er den Kopf. Der Verdacht war absurd. Zugegeben, Manzini hatte wohl den einen oder anderen ausländischen Juden an Karl Hass, den SS-Spitzel aus der deutschen Botschaft, gemeldet, aber warum und vor allem wie sollte er die übrigen Nicht-Arier, Nicht-Faschisten oder Nicht-Heterosexuellen an Deutschland ausliefern? Selbst die am 15. Juni letzten Jahres

Weitere Kostenlose Bücher