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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Vater durchgemacht hatte, erschienen ihm die Ideale des Humanismus wie ein verblichener Schriftzug an der Wand eines zerbombten Hauses. Während man den Wert von Gold an Börsen notierte, schien man den des menschl i chen Lebens auch nach fast eintausendneunhundert Jahren nur an seinem Brennwert zu messen.
    Er schüttelte trotzig den Kopf. Nein, er durfte jetzt nicht in Zynismus verfallen. Immerhin hatte er eines dieser L e ben gerettet, und das war ein unendlich gutes Gefühl.
    Eine Weile lief er ziellos zwischen Opfern und Helfern am Bahnhof herum, der von den Bomben gründlich zerstört worden war. Endlich fand er ein Durchkommen und ging die Via Cavour entlang weiter in Richtung Trastevere.
    Das Viertel links vom Tiber war vom Bombenhagel ve r schont geblieben. Von der Höhe des Gianicolo musste San Lorenzo wie ein riesiges Lagerfeuer aussehen. Nico fehlte jedoch der Mut, sich davon zu überzeugen. Er war froh, als er endlich das dreistöckige Haus an der Piazza Santa Maria in Trastevere erreichte. Von seiner kleinen Wohnung aus konnte er direkt auf die gleichnamige Basilika sehen. Johan Mezei und seine Frau hatten in der Via San Franceso a R i pa, also in unmittelbarer Nachbarschaft, einen Unterschlupf gefunden und lebten dort seit ihrer Flucht aus Wien, allen amtlichen Verfügungen zum Trotz, weitgehend unbehelligt.
    Trastevere war ein Viertel mit noblen Palästen, verträu m ten Plätzen und verwinkelten Gassen, das eine Welt für sich darstellte – ideal für jemanden, der für eine Weile unterta u chen wollte. Die Leute hier sprachen einen eigenen Dialekt und bezeichneten sich selbst als Nachfahren der alten R ö mer. Schon mancher Aufstand war von hier ausgegangen. Auch nach Italiens Kriegseintritt hatte man im Quartier früher als anderswo das Aufflackern der inzwischen allseits zu spürenden antifaschistischen Stimmung bemerkt. Nac h dem die Alliierten den Warenverkehr von und nach Italien blockiert hatten, begannen die Arbeiter und einfachen Leute zuerst unter dem wirtschaftlichen Druck und den daraus resultierenden Rationierungsmaßnahmen zu leiden. Die Umgehung dieser Restriktionen durch Vertreter der Regi e rung und der gesellschaftlichen Oberschicht heizte die r e gimefeindliche Stimmung noch zusätzlich an.
    Im März war der Unmut in einen Streik der Werktätigen umgeschlagen. Inzwischen hatte die italienische Armee an allen wichtigen Frontabschnitten im Ausland kapituliert. Die Divisionen in Russland waren förmlich ausradiert wo r den. Mussolinis Stern begann zu sinken, und nirgendwo spürte man das stärker als hier in Trastevere.
    Nico legte nach alter Gewohnheit seine Hand über das Schloss in der Wohnungstür im dritten Stock. Es war zwar alt, aber vergleichsweise mitteilsam. Nein, niemand hatte sich während seiner Abwesenheit an ihm zu schaffen g e macht. Er öffnete die Tür und trat ein.
    In der Küche legte er die Schachtel mit der Breguet-Uhr von Signor Madesani auf den Tisch. Er verdrängte den G e danken, schon bald in das Haus an der Via Tiburtina z u rückkehren zu müssen. Dummerweise hatte er über all der Hektik vergessen, dem Kunden eine Nachricht zu hinterla s sen.
    Nico stillte seinen Durst am Wasserhahn. Anschließend machte er sich an der gekachelten Wand zwischen Fenster und Herd zu schaffen. Die Fliesen verdeckten eine Gehei m tür. Früher musste sich in der Nische dahinter eine Speis e kammer befunden haben, aber er hatte dieses Versteck schon so vom Vormieter, einem bekennenden Kommuni s ten, übernommen. In dem fensterlosen Raum lag ein Jut e sack, sonst nichts.
    Nico hob ihn auf, verschloss sorgfältig wieder die Öf f nung und begab sich zum Esstisch, über dem er den Sack ausleerte. Achtlos ließ er den Beutel zu Boden fallen und sank auf den Küchenstuhl. Die Ellenbogen auf die Tisc h platte gestützt, den Kopf mit den Händen haltend, starrte er lange auf das braune Auftragsbuch und den wirr durchei n ander gerutschten Stapel von Aktendeckeln. Der Hohlraum hinter der Geheimtür war nicht mehr sicher, keinesfalls bombensicher, machte er sich klar. Wenn die Alliierten den Duce erst wie einen räudigen Hund davongejagt hätten – für Nico lag dieser Zeitpunkt nicht mehr in weiter Ferne –, dann würde er diese Papiere brauchen.
    Er war ja ein zwar heimlicher, aber begeisterter Hörer des Auslandsprogramms der BBC. Seiner aus London sta m menden Mutter hatte er es zu verdanken, dass er nicht nur die italienischsprachigen Sendungen mitverfolgen konnte, sondern auch

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