Der Herr der Unruhe
Arier‹ zu leiden haben. Wie kann der Papst so e t was gutheißen? Sind Joseph und Maria etwa keine Juden gewesen? Und Petrus und die Apostel? Pius XII. hat in der Welt noch eine Stimme. Uns wurde sie genommen. Ich finde, das Neue Testament darf das Alte nicht im Stich la s sen.«
Lorenzo horchte auf. »Was hast du gesagt?«
»Dass uns Juden in Europa niemand mehr anhören …«
»Nein, das andere. Das ist es, Nico! Ich muss die Einheit des Wortes Gottes beschwören!«
»Wie bitte?«
»Vielleicht hast du mir eben den Schlüssel gegeben, mit dem ich das Herz des Papstes öffnen kann. Nein, besser, es tut jemand von euch.«
»Wenn unser Oberrabbiner bei Pius XII. eine Audienz bekäme …«
»Das ist eine gute Idee, Nico! So machen wir ‘s. Ich ke n ne Professor Zolli persönlich. Er ist ein vernünftiger Mann und könnte den Papst vielleicht umstimmen.«
»Wird Pacelli ihn denn so ohne weiteres empfangen?«
Lorenzo schürzte die Lippen. »Das weiß ich nicht. No r malerweise schickt Seine Heiligkeit andere vor, um nöt i genfalls unangenehme Ablehnungen auszusprechen. Ich könnte mir denken, dass er Luigi Maglione, seinen Kard i nalstaatssekretär, die Verhandlungen führen lässt. Aber das braucht kein Nachteil zu sein. Zunächst müssen wir sehen, wie wir den Oberrabbiner ohne Aufsehen in die Città del Vaticano bekommen.«
»Könnte er nicht die versteckte Pforte benutzen?«
»Sicher. Das würde gehen. Soweit ich weiß, ist er mit Doktor Fiorentino befreundet, einem Arier, wie Kappler sagen würde. Ich werde den Doktor bitten, euren Oberra b biner mit seinem Wagen abzuholen und hierher zu bringen. Um ganz sicherzugehen, sollte er auch innerhalb der Vat i kanstadt nicht als der auftreten, der er wirklich ist, aber da habe ich schon eine Idee.«
»Ich hoffe nur, der Rabbi spielt mit.«
»Es muss klappen, Nico. Sprich du mit Professor Zolli, ich werde den Heiligen Vater ein wenig … präparieren, damit er ihn empfängt.«
Israel Zolli war Anfang sechzig. Er stammte aus Brody in Galizien und hatte einen Lehrstuhl an der Universität von Padua innegehabt. Er sprach nicht allein Polnisch, Hebr ä isch, Italienisch, sondern auch genug Deutsch, um Mein Kampf im Original zu lesen. Ob aus Hitlers ideologischem Offenbarungseid oder anderen Schriften der Nationalsozi a listen, er hatte sich ein Bild von der Gefährlichkeit des braunen Gedankenguts gemacht und war in der jüdischen Gemeinde von Rom seit langem ein Rufer in der Wüste – die anderen Ältesten hielten seine Warnungen für überz o gen, ja, sogar gefährlich.
Nach dem so hoffnungsvoll verlaufenen Gespräch mit L o renzo kostete es Nico keine große Mühe, bis zur Türschwe l le des Oberrabbiners zu gelangen – Meister Davide begleitete ihn dorthin.
Zolli stand unter enormem Zeitdruck. Die Sammelaktion verlief eher schleppend. Er hatte sich ganz oben auf die Liste der dreihundert Namen gesetzt, die der SS im Falle eines Scheiterns als Geiseln ausgeliefert werden sollten. Erst wollte er den Uhrmachergesellen nicht einmal empfa n gen, aber dann sagte Nico etwas das ihn hellhörig werden ließ.
»Ich habe in Wien zweimal dem braunen Pöbel getrotzt. Glauben Sie mir, Professor Zolli, in der so genannten ›Reichskristallnacht‹ konnte ich an eigener Haut erfahren, was die Nationalsozialisten …«
»Sie kommen aus Wien?«, unterbrach der Oberrabbiner den jungen Mann. »Das ist ein seltsamer Zufall. Ich habe in Wien studiert. Was halten Sie von Kapplers Erpressung s versuch, Signor dei Rossi?«
»Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass er uns in Sa m mellager internieren lassen will. Wenn Sie mich fragen, wird er das auf jeden Fall tun. Aber vielleicht können wir eine Galgenfrist herausschinden, wenn wir das Gold z u sammenbringen. Ich habe eine Idee, wie wir das schaffen könnten. Wir brauchen die Zeit, um Verstecke zu finden.«
Zolli öffnete weit seine Wohnungstür. »Leider ist die meine knapp bemessen, lieber junger Freund, aber kommen Sie bitte trotzdem herein. Wie hatten Sie sich das mit dem Gold vorgestellt?«
Über die hervorragenden Kontakte eines einfachen jüd i schen Uhrmachergesellen zum Vatikan war der Oberrabb i ner zunächst erstaunt. Bald verwandelte sich seine Überr a schung jedoch in Zuversicht, und als am 29. September – dem letzten Tag des Ultimatums – feststand, dass die Juden aus eigener Kraft nur fünfunddreißig Kilogramm Gold z u sammenbringen konnten, hinderte ihn nichts mehr daran, Pius XII. um Hilfe zu
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