Der Herr der Unruhe
ein Dok u ment mit dem päpstlichen Siegel. Wenig später saß er in einem Sessel des Vatikanpalastes und blickte in Lorenzos sorgenvolles Großejungengesicht.
»Ich vermisse deine sprühende Zuversicht«, gestand Nico, nachdem er seinen Freund begrüßt hatte.
Der Mönch lächelte gequält. »Tempora mutantur, et nos mutamur in illis!«
»Leider kann ich immer noch kein Latein.«
»Kaiser Lothar I. hat das einmal gesagt. ›Die Zeiten ä n dern sich, und wir ändern uns mit ihnen!‹«
Nico glaubte zu verstehen, worauf der Benediktiner a n spielte. Nach einem kleinen Schweigen holte er tief Luft und sagte: »Ich brauche deinen Rat. Habe ich dich bei e t was Wichtigem gestört?«
»Ach, na ja, ich recherchiere gerade in der Bibliotheca P a latina für einen Freund in einer dringenden … Aber das hat Zeit. Was führt dich zu mir, Nico?«
Der Gefragte fasste die jüngsten Ereignisse zusammen und schilderte dann seine Überlegungen zu einem Re t tungsplan im Fünfzig-Kilo-Gold-Debakel. »Hast du eine Idee, wie man meinen Leuten helfen könnte?«, schloss er seinen Monolog.
Lorenzo wiegte den Kopf hin und her. »Glaube mir, ich habe schon so oft mit dem Papst über die Gräuel gespr o chen, die man deinem Volk antut.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Bisher wollte ich dich mit diesen Dingen nicht b e lasten, weil die Juden hier besser als anderswo in die B e völkerung integriert sind. Ich hoffte, es würde nicht zum Schlimmsten kommen, so wie …« Das Haupt des Benedi k tiners sank herab, als sei er unfähig, es länger auf den Schultern zu halten.
»Wie …?«, fasste Nico nach.
Der Mönch hob langsam den Blick. In seinen Augen spiegelte sich ein Schmerz, der seinem Gegenüber kalte Schauer über den Rücken trieb. Er machte eine raumgre i fende Geste, die wohl die ganze Vatikanstadt einbeziehen sollte. »Wir haben hier schon vor vielen Monaten von Di n gen erfahren, die schlimmer sind als jeder Albtraum, und ich rede da nicht von Vorfällen wie dem vom vorletzten Sonntag.«
»Was ist da passiert?«
»Einheiten der SS haben zweiunddreißig Einwohner von Bove, in der Provinz Cueno, kaltblütig erschossen. Leider ist das kein Einzelfall. Sie gehen mit unvorstellbarer Gra u samkeit vor. Nicht einmal Frauen und Kinder sind vor i h nen sicher. Aber, so zynisch das klingt, diese Massaker sind nichts im Vergleich zu dem, was sie deinem Volk antun, Nico. Von unseren französischen Diözesen bekamen wir letztes Jahr Nachricht, dass die BBC am 1. Juli über ein Massaker an siebenhunderttausend Juden berichtet hatte. Aus Drancy erreichte uns der Bericht eines Kinderarztes von über fünfeinhalbtausend Jungen und Mädchen, die man durch die Stadt transportierte; ihre Eltern waren bereits l i quidiert worden. Und der Papst schwieg zu alldem. Ich war nahe daran, am Glauben Schiffbruch zu erleiden, Nico. Wenn das alles vorüber ist, werde ich mein Leben von Grund auf ändern, das steht fest, aber bis dahin will ich hier ausharren und alles in meiner Macht Stehende tun, um das Leid der Menschen zu lindern.«
»Wenn doch nur dein Oberhirte so reden würde! Wieso verfasst er nicht eine scharfe Enzyklika, die Hitler und den Rassismus vor aller Welt brandmarkt?«
»So ein päpstliches Rundschreiben hat es gegeben, mein Freund. Es stammte von Pius XI. meinem Mentor und E u genio Pacellis Amtsvorgänger. Leider starb er, bevor es veröffentlicht werden konnte, und der neue Papst hielt es für zu gefährlich, Hitler offen anzugreifen.«
»Aber die Hälfte der Deutschen sind Katholiken! Selbst ein Adolf Hitler hätte nicht den Aufschrei von vierzig Mi l lionen Bürgern ignorieren können.«
Lorenzo seufzte. »Der jetzige Papst ist ein Diplomat, der sich nicht gerne in die Angelegenheiten souveräner Staaten einmischt und überaus vorsichtig ist in allem, was er tut. Die Interessen seiner deutschen Schäfchen waren ihm wohl wichtiger als …« Der Mönch verstummte.
»Du wolltest wohl sagen, wichtiger als ein paar Tausend Juden, die den Heiland ermordet haben«, brach es aus Nico hervor. »Das verstehe, wer wolle. Wo bleibt denn seine Vorsicht, wenn es um die Ausmerzung der kommunist i schen Zellen geht? Da mischt er sich alle naselang ein. Wieso kann er gegen den Bolschewismus Partei ergreifen und zugleich Neutralität heucheln, wenn Gottes auserwäh l tes Volk abgeschlachtet wird? Ich habe euren Heiland doch nicht ans Holz genagelt, Lorenzo, und auch nicht meine Brüder und Schwestern, die unter der Lüge vom ›reinen Blut der
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