Der Herr der Unruhe
seiner Gedanken schwamm die Erkenn t nis auf, dass Manzini ihm nachgespürt haben musste. Wie damals, als nur einen Steinwurf weit entfernt zwei U n schuldige hatten sterben müssen. Jetzt hatte sich sein Feind mit einer ganzen Armee verbündet, die Tausende Menschen wie Vieh verladen und davonschaffen konnte. Wenn der Funker seine Meldung absetzte, dann würde man seinen Namen bestimmt …
»Es funktioniert nicht, Herr Obergruppenführer.«
»Was soll das heißen?«
»Ich kriege nur statisches Rauschen.«
»Versuchen Sie es weiter.«
Nico stieß ein unwilliges Brummen aus.
»Lassen Sie den Mann doch gehen, Herr Obergruppe n führer«, legte für ihn erneut der Dolmetscher Fürsprache ein.
Der Offizier stieß unwillig die Luft durch die Nase aus. »Na, meinetwegen. Der Bursche sieht sowieso aus, als wenn er es nicht mehr lange macht. Sollte er es bis zum Vatikan schaffen, kann er Papst Pius ja schöne Grüße von SS-Obergruppenführer Theodor Dannecker ausrichten: Wir hätten die Ewige Stadt von ihrer schlimmsten Ungeziefe r plage befreit. Der Führer würde sich über ein Dankestel e gramm von Seiner Heiligkeit bestimmt sehr freuen.«
Später wusste Nico nicht genau, wie er es hatte schaffen können. Seine Erinnerungen waren wie einzelne blaue L ü cken in einem schwarzgrauen Wolkenbrei. Zum Fieber, den Schmerzen und der Übelkeit kam die Verzweiflung hinzu. Seine Freunde, nein, seine Familie war verschleppt worden. Irgendwie hatte er es vom Ghetto aus zum Motorrad g e schafft und war schlingernd, wie durch einen Nebel, in die Via Gallo gefahren. Dort fand er weder Davide und Sal o mia noch die Leute, die ihnen Unterschlupf gewährten. D a nach hatte er keinen anderen Ausweg gewusst, als zum V a tikan zu fahren. Als er den Petersplatz erreichte, beobacht e te er eine Szene, deren Unmenschlichkeit die Reichspo g romnacht nur wie eine Ouvertüre des Grauens erscheinen ließ.
Offenbar war die Einheit des SS-Obergruppenführers Dannecker nicht in Rom stationiert, denn die Männer füh r ten sich auf wie Touristen. Ständig rollten die Armeelas t wagen auf die Piazza San Pietro, hielten einige Minuten an, damit man den Petersdom, die Kolonnaden Berninis und den Obelisken bestaunen konnte, und fuhren dann weiter. Und die ganze Zeit über schrien die auf den Ladeflächen zusammengepferchten Kinder, Frauen und Männer.
Die Vorstellung, dass irgendwo unter diesen Lauten der Angst und Verzweiflung auch das Weinen seiner Gefährten sein könnte, raubte Nico fast die Besinnung. Die Tränen nahmen seiner ohnehin schon getrübten Sicht auch noch das letzte bisschen Klarheit. Wie durch ein Wunder fand er trotzdem den Weg zu dem versteckten Nebeneingang.
Als die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel, wurde er von einem Schweizergardisten empfangen, der ihn bereits kannte. Nico fiel mehr von Albinos Rücken, als dass er hinunterstieg. Starke Arme fingen ihn auf. Das Motorrad stürzte um.
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich … ich habe sie verloren«, schluchzte Nico.
»Sie sind ja ganz heiß!«
»Lorenzo … Er muss …«
»Sie wollen zu Bruder Di Marco? Warten Sie, ich rufe Hilfe.«
Wieder verschwammen Zeit und Raum für Nico zu einer nebelhaften Unbestimmbarkeit. Schwebte er durch die h o hen Flure, oder wurde er getragen? Plötzlich tauchte aus den Schlieren eine schwarze Gestalt auf. Der Todesengel !, schoss es durch den gepeinigten Geist, aber dann legte sich eine kühle Hand auf seine Stirn, und gedämpft erklang L o renzo Di Marcos Stimme.
»Um Himmels willen! Du glühst ja, Nico. Was ist mit dir?«
»Muss mich erkältet haben … muss Johan finden und Lea und Davide und … muss … Hilfe!« Er fühlte sich sanft in einen hochlehnigen Stuhl gepresst, hörte das Gluckern von Wasser. Ein Glas wurde ihm an die Lippen gesetzt.
»Hier, trink erst mal was.«
Mit großen Schlucken stürzte er das kühle Nass hinunter, verschluckte sich, hustete und stammelte erneut los. »Ein … schwarzer Wagen … Manzini … Seine Männer haben mich verfolgt und … sie abgeholt …«
Lorenzo schickte jemanden, den Nico nicht sehen konnte, nach einem Arzt. Dann strich er wieder über Nicos Stirn und begann in beruhigendem Ton auf ihn einzureden: »Ich habe gehört, was heute passiert ist, mein Freund. Es ist furchtbar … Mir … fehlen die Worte. Dabei haben wir g e tan, was wir konnten, nachdem Ernst von Weizsäcker – das ist der deutsche Botschafter hier am Heiligen Stuhl – uns im Voraus gewarnt hatte. Der Papst hat
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