Der Herr der Unruhe
Nico wie eine eiskalte Dusche. Trotz furchtbarer Schmerzen reckte er den Rücken. »W-wo … wo sind sie alle hin?«, stammelte er auf Italienisch.
»Wohnen Sie hier?«, fragte erst der Deutsche, dann der Übersetzer.
Verschwommen nahm Nico vor sich zwei Uniformen und dahinter eine wogende graue Wolke aus weiteren Soldaten wahr. Er kniff die Augen zusammen, sammelte Kraft. Als er sie wieder öffnete, sah er ein bleiches keilförmiges G e sicht und darüber, auf einer Offiziersmütze, einen Tote n kopf.
»Ich … nein«, erwiderte Nico und ließ den Kopf hängen.
»Sind Sie Jude?«, hakten die Sprecher zweisprachig nach.
»Ich … ich komme aus Nettunia und habe mir die große Schreibmaschine angesehen. Gerade wollte ich auf dem kürzesten Weg nach Regula.«
»Ist der Kerl betrunken?«, fragte der Deutsche, nach der Übersetzung. Dem Dialekt nach war er ein Schwabe. Der Dolmetscher antwortete direkt.
»Wenn Sie seine Bemerkung über die ›große Schreibm a schine‹ meinen, Herr Obergruppenführer – damit meint er den Vittoriano.«
»Jetzt bin ich genauso klug wie vorher.«
»Das Denkmal zu Ehren von König Vittorio Emanuele II. Steht gleich hier um die Ecke, Herr Obergruppenführer. Ist so ein monumentales Ding aus weißem Marmor, das au s sieht wie …«
»Wie eine große Schreibmaschine. Jetzt habe ich es auch verstanden. Der Kerl hat aber immer noch nicht meine Fr a ge beantwortet.«
»Sind Sie Jude?«, hakte der Dolmetscher nach.
Nico fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und fürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn er nur den Mund öffnete. Mit zitternden Fingern nestelte er in der Brusttasche seiner J a cke herum. Schließlich förderte er eine braunlederne Brie f tasche hervor und streckte sie in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren.
Es dauerte eine Weile, bis der italienische Dolmetscher die richtigen Dokumente gefunden hatte. Leise und schnell erklärte er seinem Vorgesetzten: »Sein Name lautet Niklas Michel. Geboren in Tirol. Italienischer Staatsbürger.«
»Also kein Jude«, schnarrte der Deutsche, und es hörte sich irgendwie gereizt an.
»Nein, Herr Obergruppenführer. Er ist Katholik.«
»Wir hatten achttausend jüdische Ratten auf der Liste und haben gut eintausend erwischt. Sacken sie den Kerl mit ein.«
»Aber, Herr Obergruppenführer, schauen sie hier.«
Nico sah undeutlich, wie der Dolmetscher seinem Vorg e setzten einen aufgefalteten Papierbogen hinhielt.
»Ich kann kein Italienisch. Was ist das?«
»Ein Empfehlungsschreiben des Heiligen Stuhls.«
»Noch so einer!«, schnaubte der Offizier. »Mir wurde b e richtet, dass die Stärke der päpstlichen Leibwache in den letzten zwölf Monaten sprunghaft angestiegen sein soll. Prüfen Sie trotzdem, ob sein Name auf der Liste steht.«
Verschwommen nahm Nico wahr, wie sich ein weiterer Soldat in sein Blickfeld schob. In seinen Händen hielt er etwas Helles, in dem er herumzusuchen begann. Woher hatten die Deutschen all die Namen?
»Kein Michel Niklas dabei, Herr Obergruppenführer«, e r klärte Stimme Nummer drei.
»Niklas ist die alpenländische Form von Nikolaus. Wie steht’s damit?«
»Habe ich schon nachgeschaut, Herr Obergruppenführer. Wir haben auch keinen Michel Nikolaus oder Klaus auf der Liste.«
Der Dolmetscher verschaffte sich respektvoll Gehör. »Wenn ich mir den Rat erlauben dürfte, Herr Obergruppe n führer, sollte dieser Mann tatsächlich zum Stab des Heil i gen Vaters gehören, dann wäre es vielleicht besser …«
»Nun machen Sie sich mal nicht gleich in die Hosen, A s cari. Finden Sie es nicht auch merkwürdig, dass er im J u den-Ghetto herumschleicht, obwohl es hier von unseren Männern nur so wimmelt?«
»Der Mann scheint krank zu sein.«
»Oder ein Saboteur. Besser, wir nehmen ihn mit.«
»Das hier wird schon Aufsehen genug erregen. Wir sol l ten Pius XII. nicht unnötig reizen, Herr …«
»Halten Sie endlich die Klappe, Ascari! Herrje ! Hat Ihr Spieß Ihnen nicht beigebracht, was Disziplin bedeutet?«
»Ich wollte Ihnen nur Ärger ersparen, Herr Obergruppe n führer.«
Der Offizier zischte etwas für Nico Unverständliches und rief dann nach einem Funker. Wieder klapperten Stiefelso h len auf dem Kopfsteinpflaster, und ein Befehl wurde g e bellt.
»Geben Sie den Namen dieses Mannes ans Hauptquartier durch. Vielleicht ist er ein Partisan.«
Nico musste an die schwarze Limousine denken, die J o han und Lea entführt hatte. Kein Armeelastwagen wie hier! Im trägen Schleim
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