Der Herr der Unruhe
die Geistlichen in den Gemeinden und Klöstern angewiesen, die Gotteshäuser zu öffnen, damit die Juden dort Schutz finden können. A l lein in der Vatikanstadt sind um die zweihundertvierzig untergekommen. Professor Zolli sagt, dass weit über vie r tausend in Sicherheit sind und …«
»Zu spät!«, fiel Nico dem Mönch in einem letzten Au f bäumen ins Wort. »Dieser Obergruppenführer von der SS hat selbst gesagt, dass sie über tausend der Unsrigen eing e sammelt haben.«
»Du … hast den Kommandeur der Aktion getroffen?«, fragte Lorenzo überrascht.
»Fast hätte er mich auch mitgenommen.«
»Kennst du seinen Namen?«
Das Nachdenken fiel Nico unendlich schwer. »Er hieß … warte … Dannecker, glaube ich.«
»Theodor Dannecker?«
»Ja.«
»O mein Gott!«
»W-was ist …?«
»Dieser Dannecker war 1942 Leiter des Judenreferats der Gestapo in Frankreich. Er hat Abertausende deiner Leute in den Tod geschickt. Ich dachte, er treibt jetzt in Verona sein Unwesen. Himmler muss ihn eigens für die Razzia im Ghetto hierher beordert haben, vermutlich um die Sache so lange wie möglich geheim zu halten.«
»Zu spät …« Nicos Stimme war wie altes Papier, das bei der kleinsten Berührung zerbricht.
»Was sagst du?«
»Dein Oberhirte … Er hat sein Schweigen zu spät gebr o chen.«
»Du darfst deine Hoffnung nicht aufgeben, Nico. Vie l leicht sind deine Freunde unter den vielen, die sich rechtze i tig in Sicherheit bringen konnten. Ich werde nach ihnen suchen lassen.«
»Hast du mir nicht zugehört?«, schrie Nico. Sein Körper wurde von Tränen und Fieber geschüttelt. »Sie … sie haben Johan und Lea nicht in Armeelastwagen weggeschafft. Manzini hat sich für sie etwas … Besonderes ausgedacht.«
»Selbst dann ist noch nicht alle Hoffnung verloren. Aus sicherer Quelle weiß ich, dass die Gefangenen noch auf dem Bahnhof Tiburtina sind. Bis Montag sollen sie in ach t zehn Eisenbahnwaggons auf ihren Abtransport warten. Der Papst hat in mehreren Demarchen und offiziellen Noten gegen das Vorgehen der Deutschen protestiert, und jetzt wird er es noch eindringlicher tun.«
Nicos tränenüberströmtes Gesicht sprach auf den Trost nicht mehr an. Schmerz und Verzweiflung verzerrten es zu einer fast unmenschlichen Grimasse. Er schüttelte ein let z tes Mal den Kopf. Dann wurde es dunkel um ihn herum. Er fühlte sich wie ein Fallender, doch anstatt eines Aufpralls spürte er nur das Schwinden seines Geistes.
Er schwebte durch einen dunklen Tunnel. Das Gleiten im Nirgendwo schien sich unendlich hinzuziehen. Ab und zu leuchteten klare Momente wie Lichtschächte in der Finste r nis auf. Ein freundlich lächelndes Gesicht, ganz von Stoff eingerahmt. Jemand, der ihm die Stirn abtupfte. Stimmen, die vorübertrieben.
»Ist er das?«
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Was fehlt ihm?«
»Er leidet an Wechselfieber.«
»Malaria?«
»Die schlimmste Form, die man kriegen kann.«
»Dabei hat er, wie mir Monsignor Maglione berichtete, so viel für seine Leute getan. Wir werden für ihn beten.«
»Das tue ich, seit er zum ersten Mal zu mir kam, Eure Heiligkeit.«
»Wird er es schaffen?«
»Es steht schlimm um ihn. Dottor Bartoletti sagt, er weist die typischen Symptome von Malaria tertiana auf: Fiebe r schübe alle achtundvierzig Stunden, Schüttelfrost …«
»Und was bedeutet das?«
»Nico dei Rossi ist ein Todgeweihter.«
»Mutter Maria! Hat unser Held denn überhaupt keine Chance?«
»Das hängt davon ab, wie lange sein Körper schon mit der Krankheit kämpft – der Doktor will noch eine genauere Blutuntersuchung durchführen. Wenn wir die Medikamente rechtzeitig verabreichen konnten, dann besteht Hoffnung, dass er in zwei Jahren wieder ganz gesund sein wird … O nein!«
»Was ist?«
»Seine Lider bewegen sich. Er scheint aufzuwachen. Ho f fentlich hat er uns nicht gehört.«
Nico öffnete die Augen. Zwei Schemen standen an se i nem Bett wie Engel, die um eine Seele stritten; die Farbe des einen war schwarz wie die Nacht, die des anderen strahlte wie frisch gefallener Schnee. Der Weiße beugte sich über den Erwachten und berührte dessen Schulter. Er trug – für Himmelsboten eher untypisch – eine runde Brille und hatte eine Adlernase.
»Wie geht es dir, mein Sohn?«
Die schweren Lider des Sterbenskranken fielen wieder zu, und er versank erneut in Bewusstlosigkeit.
Es folgten weitere Schlaglichter geistiger Klarheit im dun k len Stollen des fiebrigen Deliriums. Wenn die Kranke n schwester in
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