Der Herr der Unruhe
solchen Momenten nicht zufällig bei ihm war, sah Nico nur die weiß getünchte Decke des Krankenzi m mers über sich. Er war zu schwach, um auf sich aufmer k sam zu machen. Sosehr er sich auch bemühte, wach zu bleiben, entglitt er meistens schnell wieder ins Niemand s land zwischen Traum und Tod. Manchmal schüttelten ihn Krämpfe, und er fror, als läge er nackt im Schnee, dann wieder glaubte er, das Fieber müsse ihn verbrennen.
Eines Morgens erwachte er, und die Hitze war aus seinem Körper gewichen. Eine Nonne fühlte ihm gerade den Puls. Sie wiederholte, was zuvor schon der Weiße mit der H a kennase gefragt hatte.
»Mein Rücken tut weh. Und mein Kopf«, antwortete der Patient mit schwacher Stimme.
Das runde Gesicht unter dem Schleier schmunzelte, als sei das die beste Nachricht, die sie seit langem gehört hatte. »Ihr Körper gewöhnt sich gerade an die Vorstellung weite r zuleben. Geben Sie ihm Zeit.«
»Welcher Tag ist heute?«
»Samstag, der 30. Oktober.«
Nicos Kopf fuhr hoch. »Ich habe zwei Wochen geschl a fen?«
»Nein, Sie waren zwischendurch immer wieder wach und haben im Delirium geredet. Alle zwei Tage wurden Sie von Fieberanfällen geschüttelt. Das Thermometer blieb ein paar Mal nur knapp unter der Zweiundvierzig-Grad-Marke st e hen. Es ist noch lange nicht ausgestanden, Signor dei Rossi, aber wenn ich Sie mir so ansehe, dann glaube ich, Sie sind über dem Berg. Und das sage ich Ihnen: Schwester Magd a lenas Glaube hat schon manchen Berg versetzt.«
»Danke, Schwester.«
Sie tätschelte Nicos Hand. »Nicht der Rede wert. So, und jetzt lasse ich Sie mit Ihrem Besucher allein. Er hat schon seit Stunden an Ihrem Bett gewacht.«
Die Schwester entschwand in Richtung Fußende und gab den Blick auf einen kleinen dunkelhaarigen Mann frei, der wie ein Häuflein Elend in seinem Stuhl saß. Trotzdem ve r suchte er zu lächeln.
»Davide!« Nico hätte vor Glück am liebsten geschrien, aber sein Atem reichte nur für ein Stöhnen.
Der Goldschmied erhob sich ächzend aus dem Stuhl, set z te sich auf die Bettkante und nahm Nicos Hand. »Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt, mein Junge.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Ich bin in die Città del Vaticano geflohen. Lorenzo hat mir einen Pass mit dem Stempel des Heiligen Stuhls b e sorgt. Offiziell gehöre ich zur Palatingarde des Papstes.«
Nico erinnerte sich an die wütende Bemerkung eines SS-Offiziers. Wie lange war das her? »Du sprichst immer nur von dir … Was ist mit Salomia?«
Davide senkte den Blick. Seine Lippen begannen zu b e ben. Er schüttelte den Kopf, brachte aber kein Wort hervor.
Nico ahnte, was das Zittern in den Händen seines Freu n des zu bedeuten hatte. Er schloss die Augen und flehte: »Bitte nicht!«
Ein langes Schweigen folgte. Endlich drang wieder Dav i des brüchige Stimme an sein Ohr.
»Ich war in der Nacht auf den 16. Oktober zu einem ne u en Quartier aufgebrochen, weil es in dem alten zu gefäh r lich geworden war. Israel Zolli hatte mich gewarnt. Er ist den Häschern Kapplers ein paar Mal nur mit Mühe en t kommen. Als ich am frühen Morgen wieder zurückkam …« Davides Stimme versagte. Er schüttelte verzweifelt den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. »Da war Salomia weg. Auch unsere Freunde. Die Deutschen haben jedem schwere Strafen angedroht, der Juden Unterschlupf gewährt oder ihnen sonstwie hilft.«
»Aber vielleicht konnten sie fliehen …«
»Nein«, stieß Davide hervor. »Die SS hat zwölfhundert von uns eingefangen. Papst Pius hat daraufhin den deu t schen Botschafter einbestellt und gegen die Verhaftungen protestiert. Weizsäcker soll selbst nicht glücklich mit den menschenverachtenden Auswüchsen des Hitler-Regimes sein und fand wohl den richtigen Ton, um die Judenjäger zu verunsichern. Sie ließen zweihundert Geiseln frei. Salomia nahmen sie mit.«
»Johan und Lea …«
»Auch sie wurden in den Waggons abtransportiert. L o renzo hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber er konnte nicht mehr erreichen als eine Bestätigung ihrer Namen. Ich habe ihm so lange zugesetzt, bis er mir verraten hat, was die ›übliche Verfahrensweise‹ in solchen Fällen ist.« Nico wa g te nicht, danach zu fragen, aber Davide schien offenbar das Bedürfnis zu verspüren, sich den Kummer von der Seele zu reden. Sein Atem flatterte, als er tief Luft holte und hinz u fügte: »Sie sammeln ihre Beute in Anhaltelagern – San Sabba, Fossoli di Carpi, Borgo San Dalmazzo, Bozen – ich konnte mir
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