Der Herr der Unruhe
seine Sippe deporti e ren«, deutete die Tortora den letzten Teil des abgehörten Gesprächs.
»Ich muss sofort in den Palazzo.«
»Immer langsam mit den jungen Pferden«, bremste ihn die Tortora. »Die Geheimtür ist zu, und anders kannst du nicht ungesehen in den Palast marschieren, um dein Mä d chen herauszuholen. Wenn du dich unbedingt umbringen willst, dann sollte das deine Ultima Ratio sein, nicht die erste Wahl.«
Immer wieder überraschte die äußerlich so liederliche Witwe Nico mit dem Aufblitzen ihrer Bildung. »Sie schl a gen mir vor, noch ein wenig ›den Äther abzugrasen‹ um möglicherweise einen besseren Weg zu finden, ehe ich mich ins Unglück stürze?«
»Sag ich doch.«
Nico seufzte. »Also gut. Ich habe in der letzten Nacht kein Auge zugetan und fühle mich wie gerädert. Wenn ich das Radio noch einmal aufmuntere, könnten Sie dann …?«
»Selbstredend, Jungchen. Hau dich nur aufs Ohr. Ich mach dich wach, wenn’s was Neues gibt.«
»Mehr als vier Stunden Schlaf brauche ich nicht.«
Die Tortora trug eine Herrenarmbanduhr. Diese befragte sie und erwiderte: »Um zwei Uhr morgens wecke ich dich.«
Nachdem Nico dem Rundfunkempfänger gut zugeredet hatte, rollte er sich mit einer im Nachbarzimmer gefund e nen Decke auf den Bodendielen zusammen. Wenige S e kunden später war er eingeschlafen.
Die Schützen legten an. Der Feldwebel gab den Feuerb e fehl. Das Krachen aus zwei Dutzend Gewehrläufen hallte wie ein einziger Schuss. Laura riss Augen und Mund auf. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Verwunderung, als sie sich zu Nico umdrehte und, von sämtlichen Kugeln ins Herz getroffen, zusammensank …
»Verdammt, Jungchen! Bist du tot, oder willst du nicht aufwachen?«
Nico schüttelte den Kopf wie ein Hund, der sich das Wa s ser aus dem Fell schleuderte. Blinzelnd öffnete er die A u gen. »Was?«
»Hast du das eben gehört?«
Die schreckliche Szene mit dem Erschießungskommando stieg wieder hoch. War es etwa doch kein Albtraum gew e sen? »Wie spät ist es?«
»Viertel vor zwei.«
Nico holte Luft, um etwas zu erwidern, als plötzlich auch er es vernahm.
Ein fernes Donnergrollen trieb über die Stadt hinweg.
»Sie kommen!«, hauchte er und war im Nu auf den Be i nen.
»Es könnten aber auch die üblichen Bombardements in den Castelli sein«, gab Signora Tortora zu bedenken. Ihr war anzusehen, dass sie nicht wirklich daran glaubte.
Er schüttelte abermals den Kopf. »Nein. Es klingt … i r gendwie anders. Ich spüre es mehr, als ich es hören kann. Es sind die Amerikaner. Die Invasion beginnt.«
Ehe die Tortora etwas erwidern konnte, stand der Himmel in Flammen, ein vielstimmiges Pfeifen ließ die Luft vibri e ren, und von überall ertönten Explosionen. Das Haus bebte.
»Du hast Recht«, rief sie. »Der Krieg kommt zu uns nach Nettunia.«
Unvermittelt begann Doktor Montis Radio zu sprechen. »Melden Sie unverzüglich dem Oberkommando, was hier los ist. Wir werden angegriffen. Die Amis kommen. Sie sollen uns dringend Luftunterstützung schicken, und die Artillerie soll den Hafen von Anzio in ein Flammenmeer verwandeln, sonst werden wir überrannt.«
Ein wahres Trommelfeuer ging jetzt auf die Stadt nieder. Die Tortora schrie: »Tu was, Nico! Wenn der Funkspruch rausgeht, dann könnte die Landung der Alliierten sche i tern.«
»Was …?« Er starrte sie ungläubig an. Nach dem Vorfall in den Pontinischen Sümpfen hatte er sich geschworen, sich nie mehr in diesen Krieg einzumischen. »Ich kann nicht …«
»Du musst !«, keifte ihn die Alte an und sah dabei aus wie die böse Hexe aus Hänsel und Gretel.
»Aber das Radio kann nur hören. Wie soll ich …?«
Im Nachbarhaus schlug eine Rakete ein.
»In dir steckt mehr, als du für möglich hältst, Jungchen. Das habe ich von Anfang an gewusst. Störe ihren Funkve r kehr. Summ ihnen was vor. Aber sorg dafür, dass die La n dungstruppen Zeit gewinnen!«
Mühsam riss er sich von ihr los, umklammerte mit beiden Händen das Radio. In der Stadt jenseits der Fenster flacke r ten verschiedene Feuer. Nico fragte sich, ob er tun sollte, was sie da verlangte. Und ob er es überhaupt konnte.
Aus dem Lautsprecher drangen überraschend klar ve r ständliche Worte. »Hier schwarzer Marderbau. Schwarzer Marderbau ruft Adlerhorst. Bitte kommen!«
Immer noch zögerte Nico. Rettete er wirklich Leben, wenn er sich jetzt einmischte? Im Circeo-Nationalpark hatte er genau das Gegenteil erreicht.
»Adlerhorst hört Sie, schwarzer Marderbau.
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