Der Herr der Unruhe
inneren Auge auf. Was konnte er tun? Die Amerikaner rufen? Vermutlich würden sie ihn erschießen. Die Bretterverschanzungen von den Hinterausgängen reißen? Wie denn? Etwa mit bloßen Händen? Und für ein Kennenlernen mit Hunderten von Nägeln und Schrauben fehlte ihm die Zeit. Blieb eigentlich nur der brennende Panzer. Er musste weg. Aber auch dazu fehlte ihm die Kraft. Es sei denn …
Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte die Via C o lonna zurück. Die ausgedehnte Piazza Umberto I. zu übe r queren, wagte er nicht. Zu groß war die Gefahr, dass sich die Deutschen im Garnisonshaus zur letzten großen Verte i digungsschlacht berufen fühlten und auf alles schossen, was sich bewegte. Deshalb überquerte er ein Stück weiter sü d lich die Via Durand de la Penne, die immer noch breit g e nug war, um einem den Angstschweiß aus den Poren zu treiben. Aber er schaffte es. Außer Atem, aber unverletzt erreichte er den gegenüber liegenden neueren Stadtteil und wenig später Margerita Riccis Bäckerei. Albino wartete geduldig im Hof. Der schwarze Lack hatte nicht den klein s ten Kratzer abbekommen.
In einer Ecke des Hofes entdeckte Nico ein zusammeng e rolltes Stahltau, das für seine Zwecke ausreichen müsste. Er schlang es sich wie eine Schärpe quer über die Brust und stieg auf den Sattel. »Ich muss dich jetzt um einen großen Gefallen bitten, mein Alter«, sagte er liebevoll und stre i chelte den glänzenden Tank. Das Motorrad sprang willig an. Sekunden später raste er auf die Straße hinaus, zurück in die Altstadt.
Auf dem Weg pfiffen ihm mehr als einmal Kugeln um den Kopf, aber trotz allem gelangte er wohlbehalten zur Piazza Battisti zurück. Die aus dem Heck des Kettenfah r zeuges schlagenden Flammen waren auf das hölzerne Portal der Kirche übergesprungen. Vielleicht hatte die Panzerfaust den Tank nicht voll getroffen, sonst wäre es vermutlich längst explodiert. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Die ve r zweifelten Stimmen aus der Kirche fegten die Frage aus Nicos Kopf.
Unter den ersten vier Stufen der zum Portal führenden Treppe gab es einen Absatz. Dorthin stellte der Walzenbä n diger seinen eisernen Gefährten. Hastig fädelte er hierauf das Kabel durch eine Öse am Bug des Panzers, an die er kaum heranlangte – die Hitze war so groß, dass er glaubte, in Flammen aufgehen zu müssen. Das andere Ende des K a bels befestigte er am Rahmen des Motorrades.
Als er es wieder bestiegen hatte, begann er erneut auf das Gefährt einzureden, das ihn mehr als fünf Jahre lang durch dick und dünn getragen hatte; auf ihm war er mit Laura durch den Frühling gebraust, und es hatte ihn in der du n kelsten Zeit seines Lebens begleitet. »Ich weiß, dass ich mehr von dir verlange, als man einem treuen Freund zum u ten darf, aber wenn du mir jetzt nicht hilfst, dann werden diese Menschen bei lebendigem Leibe verbrennen. Lass mich nicht im Stich, Albino!«
Er stellte die Zündung ein und trat das Anlasserpedal ni e der. Der Motor heulte vor wilder Entschlossenheit auf. Nico legte den Gang ein und setzte das Gefährt vorsichtig in B e wegung, bis sich das Kabel straffte. »Jetzt zieh, Albino!«, feuerte er das Kraftrad an.
Nach menschlichem Ermessen erwartete er Unmögliches. Das Hinterrad drehte durch. Er nahm wieder etwas Gas weg und setzte erneut an. »Du alter Dickhäuter kannst auch r u hig ein wenig mithelfen«, schrie er zum Panzer hinauf. Das auf den Steinplatten durchdrehende Gummi begann zu ra u chen, und der Motor gab beängstigende Geräusche von sich, aber Albino legte sich weiter ins Zeug. »Du schaffst es!«, spornte ihn Nico an, obwohl der brennende Panzer sich nicht um einen Millimeter bewegte. Der wie eine gr o ße, wild gewordene Hornisse brummende Motor übertönte jetzt sogar das Geschrei aus der Kirche. »Zieh!«, schrie der Reiter auf dem schwarzen Eisenross und drehte sich zu dem Kettenfahrzeug um.
Plötzlich bewegte sich die Kanone. Der Panzer ruckte nach vorn. Das Gleichgewicht verlagerte sich. Einen M o ment lang balancierte er wie eine Balkenwaage hin und her, dann kippte er mit der Kanone voran nach unten. Albinos stählernes Herz heulte noch einmal lauter auf, und das U n fassbare geschah. Das Motorrad zog den ins Rutschen ger a tenen Panzer noch über den Absatz hinweg bis zum Fuß der Treppe hinab. Abrupt kam das ungleiche Gespann zum St e hen.
Nico flog über den Lenker hinweg und rollte sich mehr schlecht als recht auf dem Pflaster ab. Das Eisenross kippte zur Seite. Ein
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