Der Herr der Unruhe
Es ist zwei Stunden nach Mitternacht. Benutzt bitte den neuen Code, Kameraden. Ende.«
»Nico dei Rossi!« , kreischte die alte Frau. »Willst du, dass Zehntausende von Soldaten im Meer ersaufen?«
»Negativ, Adlerhost. Machen Sie sich bereit. Es folgt eine unverschlüsselte Eilmeldung an das Oberkommando. E n de.«
»Seid ihr verrückt geworden? Haltet euch an die Vo r schriften. Ende.«
»Keine Zeit, Adlerhorst. Vor ein paar Minuten hat hier …«
Die Meldung ging in einem Rauschen unter. Nico saß immer noch vor dem Radio und hielt es mit beiden Händen umklammert. Seine Augen waren geschlossen. Er zitterte.
»Hast du das getan?«, fragte die Tortora hektisch.
Er antwortete nicht. Schweiß rann ihm über die Stirn. Seine ganze Konzentration richtete sich auf die Funkstat i on, über die er mit einem unsichtbaren Band verbunden war.
»Nico!«, drängte die alte Frau. »Ist nur unser Radio au s gefallen, oder hast du es geschafft?«
Mit einem Mal entspannte er sich. Seine Hände sanken auf den kleinen Tisch, auf dem das Gerät stand. Erschöpft wandte er sich zu der Witwe um. »Der Funker wird ein paar Stunden brauchen, bis ihm sein Gerät wieder gehorcht.«
Abermals schlug eine Rakete in unmittelbarer Nähe ein. Putz rieselte von der Decke. Irgendwo klirrten Fenste r scheiben. Signora Tortora klopfte Nico auf die Schulter. »Du bist ein Wunderkind, Jungchen, aber jetzt lass uns hier verschwinden.«
Die Stunden bis zum Morgen wälzten sich quälend lange dahin. Nico verbrachte sie in Gesellschaft von Signora To r tora und einer zunehmend schwächer werdenden Handla m pe in einer Höhle unter der Stadt. Immer wieder bebte die Erde unter den Einschlägen der Raketen. Es war gar nicht daran zu denken, sich oben sehen zu lassen. Zwischen dem provisorischen Bunker und dem größeren Gängelabyrinth weiter westlich gab es keine Verbindung, was Nico mit wachsender Unruhe erfüllte. Die Witwe hatte diesen Ort zwar als enorm tief und daher besonders sicher gepriesen, aber er wusste nicht, ob ihm wirklich an diesen Vorzügen gelegen war. Er wollte lieber bei Laura sein.
»Hoffentlich ist sie in den Keller geflüchtet.«
»Dein Mädchen? Mach dir keine Sorgen, Jungchen. Do n na Laura ist die Einzige im Manzini-Clan, deren Herz g e nauso groß ist wie ihr Verstand.«
Nico saß neben der Alten auf einer in den Fels gehauenen Bank und sah sie verwundert an.
Sie kicherte. »Man braucht beides, um ein wertvoller Mensch zu sein.«
Er seufzte. »Das ist sie. Zu wertvoll für mich.«
»Was redest du da?«
»Ich will nur, dass es ihr gut geht.«
»Wenn die da oben fertig sind, dann spazierst du zu ihr, nimmst sie in den Arm und küsst sie mindestens eine Stu n de lang. Danach habt ihr dann zehn Bambinis und lebt glücklich bis an euer Ende.«
»Ich glaube, um so viele Kinder zu kriegen ist mehr als ein langer Kuss nötig«, gab Nico leise zu bedenken.
»Meinst du, das weiß ich nicht?«, erwiderte sie ruppig. »Ich kann mich noch genau erinnern, wie die Sache funkt i oniert. Schließlich habe ich auch eine Tochter. Was meinst du, wie die zustande gekommen ist?«
»Bitte ersparen Sie mir die Details.«
Mit einem Mal wurde die raue Stimme der liederlichen Alten ganz sanft. Sie legte ihren Arm um Nicos Schulter und sagte: »Lass den Kopf nicht hängen, Jungchen. Nähre deinen Glauben, und deine Zweifel werden verhungern.«
»Wie bitte?«
»Sprich ein Gebet, setze deine Hoffnung in das Gute, das am Ende immer das Böse besiegen wird. Ohne Glauben wirst du scheitern. Also lass ihn nicht verhungern, Jun g chen.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie ein religiöser Mensch sind, Sianora Tortora.«
Sie tat die unvermittelt zwischen ihnen aufgekommene Nähe mit einem Achselzucken ab. »In Situationen wie di e ser wird fast jeder fromm.«
Mit einem Mal glaubte Nico, ein Vorhang würde in se i nem Innern entzweigerissen, und zum ersten Mal sah er klar, was er bis dahin immer abgeleugnet hatte. Abrupt e r hob er sich. »Mir scheint aber, dass Sie von etwas anderem gesprochen haben. Ich habe den Glauben an Lauras und meine Zukunft verhungern und verdursten lassen, weil mir ihre Liebe unheimlich war. Sie ist die Tochter meines To d feindes. Sie besitzt ein Vermögen. Sie könnte in Gefahr geraten, wenn sie sich mit mir abgibt. Ich hatte so viele Bedenken …« Er schüttelte ungläubig den Kopf.
Die Vettel kicherte. »Ich glaube, Doctor Mechanicae, jetzt hat’s endlich bei dir klick gemacht.«
Nichts würde ihn
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